Kursorische Überlegungen
von Hartwig Berger
Klimabedingte Flucht – heute und morgen
Bereits heute ist das Ausmaß riesig, auch wenn zuverlässige Aussagen schwierig zu treffen sind. Laut Berechnungen des UNHCR von 2002 gab es bereits damals weltweit 24 Mio. Klimaflüchtlinge. Nach Schätzungen der UN-Universität mit Sitz in Bonn (UNU-EHS) waren 2010 über 50 Mio. aufgrund veränderter klimatischer Verhältnisse abgewandert oder geflohen. Für das Jahr 2050 erwartet der Weltklimarat bis zu 150 Mio. Migranten infolge von Klimawandel, das Referenzszenario des Stern-Berichts rechnet 2050 mit 200 Mio., die Oxford University (Norman Myers) für 2050 mit weit mehr als 200 Mio. Betroffenen.
Zur Einschätzung ist es hilfreich, auslösende Faktoren klimabedingter Flucht und Migration genauer anzusehen. Zu nennen ist hier allem der andauernde Verlust von bewohnbarem bzw. kultivierbarem Territorium. Nehmen wir – für das Jahr 2100 keineswegs auszuschließen – einen Meeresanstieg um 1 m an: In Küstengebieten, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen, leben schon gegenwärtig über 200 Mio. Menschen. Die meisten dieser Küstenstädte werden aufgrund des Zuzugs aus ländlichen Gebieten, häufig mitverursacht durch auch klimabedingt verschlechterte Umweltbedingungen, weiter deutlich wachsen. So werden im dicht besiedelten Nildelta und in Bangla Desh die Folgen des Meeresanstiegs schlicht katastrophale Folgen haben.
Verluste bewohn- und kultivierbaren Landes durch Klimawandel sind aufgrund anhaltender Trockenheit und den Verlust von Wasserreservoirs, die weitere Ausbreitung von Wüsten und Halbwüsten und einen starken Rückgang landwirtschaftlicher Erträge zu erwarten. Es ist damit zu rechnen, dass die Millionen zu Flucht und Abwanderung zwingen, auch wenn die quantitativen Ausmaße zuverlässig kaum abschätzbar sind.
Des weiteren ist eine Zunahme gewaltförmiger Ressourcenkonflikte zu erwarten. Schon jetzt gibt es viele Beispiele für gewalttätige Auseinandersetzungen, die sich als Folge veränderter klimatischer Verhältnisse entzündet haben. Insbesondere trifft das für Konflikte zwischen bäuerlichen und (halb-)nomadisch mit Viehherdern wirtschaftenden Gruppen und Gesellschaften zu – etwa in Ostafrika, im Sahel und in Zentralasien. Auch die brutalen Vertreibungen und Massenmorde im Darfur werden vielfach als Ressourcenkrieg aufgrund, veranlasst durch klimatische Verschlechterungen, (teil-)erklärt.
Für Ausmaß und Ablauf klimabedingter Flucht und Migration ist die innere Verfasstheit, speziell die „Verwundbarkeit“ einer Gesellschaft mit ausschlaggebend. Je schwächer das wirtschaftliche Potential, je weniger entwickelt die Infrastruktur, je stärker Klientelismus und endemische Korruption, je schwächer staatliche Institutionen und über Familienbande hinausreichende Solidaritätsbeziehungen, desto einschneidendere Folgen hat Klimawandel, desto umfangreicher, chaotischer – und mit höherer Wahrscheinlichkeit in gewaltförmigen Konflikten – werden Menschen flüchten, abwandern oder vertrieben. Welche Rolle höhere oder geringere Verwundbarkeit für die humanitären Folgen einer Naturkatastrophe spielen, ließ sich jüngst an Ablauf, Auswirkungen und Folgen der Überschwemmungen in Pakistan und Australien vergleichend nachvollziehen.
Opfer und Verursacher
Dramatik und politische Brisanz von Klimawandel und damit klimatisch verursachter Migration liegen darin, dass sie die „Least Developed Countries“, die wirtschaftlich ärmsten Weltregionen, besonders treffen. Zu leiden hat darunter fast ausschließlich die arme Bevölkerung auf dem Land sowie die zumeist vom Land Zugewanderten in den städtischen Slums. Der Klimawandel vergrößert so weltweit wie innerhalb der betroffenen Staaten die ohnehin starken sozialen Gegensätze und Ungerechtigkeiten. Denkbar, wenn nicht geradezu zu erwarten ist, dass viele ohnehin wirtschaftlich wie institutionell schwache und durch breite soziale Verelendung gekennzeichnete Staaten unter der Zusatzlast klimabedingter Fluchtbewegungen und Gewaltkonflikte endgültig zerfallen.
Im globalen Ausmaß konfliktverschärfend ist Klimawandel, weil er – von einer dünnen Oberschicht abgesehen – nicht von den vorwiegend von ihm betroffenen, wirtschaftlich armen Länder die Probleme verursacht wird; dass also die Verschlechterung der Lebensbedingungen dort der Wirtschaftsweise und Lebensstil der entwickelten Länder zugerechnet werden kann. Die Disparität von Verursachern und Opfern wird in den von Klimawandel betroffenen Regionen auch deutlich registriert und zunehmend debattiert. So wird die Forderung nach (z.B.) Reparationen, welche die Verursacher des Klimawandels zu leisten haben, wird bereits jetzt von NGOs und z.T. auch Regierungen aus den Least Developed Countries erhoben.
Beschränken wir uns hier auf die Frage klimabedingter Flucht. Was soll mit den Menschen geschehen, die gezwungen sind, ihre dauerhaft überschwemmten, durch Versalzung unkultivierbar gewordenen, ausgetrockneten oder desertifizierten Lebensraum endgültig zu verlassen? Können wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, überhaupt erwarten, dass die Flüchtlinge neuen, Lebensraum innerhalb des Staatsgebiets finden, in dem sie ihr Überleben ohne weitere Verelendung sichern können? Wie soll man sich vorstellen, wie diese Menschen irgendeine Lebensmöglichkeit in den ohnehin überbordenden Slums der Megastädte finden? Zumal ein Teil dieser Städte, sofern an flachen Küsten gelegen, vom steigenden Meeresspiegel ganz oder partiell vernichtet wird? Nehmen wir Bangla Desh als Beispiel: Schätzungen zufolge werden in den nächsten Jahrzehnten wenigstens 20 Millionen Menschen ihre überflutenden Dörfer und Felder verlassen müssen. Sollen diese Menschen in der 12 Mio. Elendsmetropole Dhaka zusätzlich Unterkunft und Auskommen finden? Oder in der 4 Mio-Küstenstadt Chittagong, sofern diese nicht selbst überflutet wird? Wo soll es sonst im übervölkerten Bangla Desh noch Lebensraum für sie geben?
Eine menschenrechtlich vertretbare Lösung wird es nach Lage der Dinge nur geben, wenn dauerhaft durch Klimawandel Vertriebene Lebens- und Siedlungsrechte in Regionen der Erde finden, die verhältnismäßig wenig von Klimawandel betroffen, wirtschaftlich vergleichsweise potent und gesellschaftlich durch geringe Vulnerabilität gekennzeichnet sind. Also ganz überwiegend in den entwickelten Ländern des globalen Norden. Da diese Länder Hauptverursacher des Klimawandels und damit dadurch bedingter Migration sind, gibt es für eine Aufnahme von Klimaflüchtlingen auch starke moralische Argumente. Die gut begründbare Verpflichtung zur Aufnahme von Klimaflüchtlingen erscheint aus moralischer Sicht sogar zwingender als die ja völkerrechtlich verbindliche und kodifizierte Verpflichtung, politisch oder ethnisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Das Völkerrecht für Verfolgte gilt unangesehen dessen, ob der aufnehmende Staat irgendeine Verantwortung für die inneren Verhältnisse in dem Land hat, aus dem die Verfolgten geflüchtet sind. Es ist selbst dann uneingeschränkt verbindlich, wenn sich der zur Aufnahme angefragte Staat aktiv für eine Verbesserung der Verhältnisse im Fluchtland engagiert hat. Im Fall klimabedingter Flucht hingegen das potentielle Aufnahmeland, sofern es sich um einen Klimawandel mitverursachenden Staat des globalen Nordens handelt, sogar partiell mitverantwortlich dafür, dass die Menschen ihre Heimat verlassen (müssen).
Nun orientiert sich praktisch Politik wenig an moralischen Argumenten und ihrer inneren Schlüssigkeit. Im Vordergrund steht die partikulare Moral der eigenen Gesellschaft und die Interessenlage der Staatsbürger, für die der Zuzug von klimabedingt Vertriebenen nachteilig erscheint und in der Regel unerwünscht ist. Für Grüne Politik ist der Rückzug auf innergesellschaftliche Interessenlagen allerdings wenig überzeugend, selbst wenn es zutrifft, dass eine Aufnahme von Klimaflüchtligen im größeren Umfang ein voraussichtlich sehr unpopulärer Schritt wäre, für den es in der Bevölkerung wenig Bereitschaft gibt und der vielmehr xenophobe Vorurteilen und Abwehrhaltungen mobilisieren kann. Denn umgekehrt gilt auch, dass die menschliche Gesellschaft allein aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, der Transport und vor allem der weltweiten Informationssysteme so sehr vernetzt worden ist, dass es immer schwieriger wird, moralische Verpflichtungen, die universalisierbar sind, einfach zu leugnen. Und so wird der Anspruch zur Aufnahme von Klimaflüchtlingen auch immer deutlicher aus Ländern und Regionen artikuliert, die besonders stark von Klimawandel getroffen sind. Als ein Beispiel zitieren wir aus der Erklärung der Konferenz in Cochabamba, April 2010:
Die entwickelten Länder müssen ihre Verantwortung bezüglich der klimabedingt Migrierenden wahrnehmen, indem sie ihnen Aufnahmerechte in ihrem Land verschaffen und ihre grundlegenden Rechte anerkennen; dazu müssen internationale Abkommen geschlossen werden, welche den Status klimabedingter Migranten definieren, so dass sich alle Staaten daran verbindlich orientieren.
Zum zweiten machen sich gerade demokratisch organisierte Gesellschaften mit ihrem Anspruch auf die Beachtung von Menschenrechten unglaubwürdig, wenn sie universalisierbare moralische Maßstäbe in einer für Millionen von Menschen existentiellen Frage brüskieren.
Die Lebensräume der Menschheit werden sich mit den Auswirkungen eines weltweiten Klimawandels zwangsläufig verändern. Viele heute dicht besiedelte Gebiete werden nicht mehr bewohnbar sein oder wie das legendäre Atlantis untergegangen sein. Es wird Völkerwanderungen neuen Stils geben: Die Bewohner ganzer Dörfer, Städte, Regionen und Landstriche werden insgesamt oder überwiegend ihre angestammte Heimat verlassen müssen.
Zugleich werden andere Regionen der Erde günstigere Lebensverhältnisse bieten, die sich teilweise aufgrund der klimatischen Veränderungen sogar verbessern können. Wenn die so zu erwartenden Wanderungsbewegungen ungeregelt und im Korsett einzelstaatlicher Interessen und Egoismen erfolgen, sind Gewaltkonflikte in kaum abschätzbarem Ausmaß, mit einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt sowie in Form zwischen- und innerstaatlicher Kriege wahrscheinlich: Gewaltkonflikte unter Nutzung der jeweils modernsten Waffentechniken! Folge sein. Ob die menschliche Zivilisation – nicht die Menschheit als solche – diese Art der chaotischen „Neusortierung“ von Lebensräumen überstehen wird, kann durchaus bezweifelt werden. Allein darum ist es angebracht, sich bereits in den Anfängen beginnender klimabedingter Migrationsprozesse darüber Gedanken zu machen, wie Wanderungsbewegungen einer durch Klimawandel dazu gezwungenen Menschheit in geregelten Bahnen, gewaltfrei und unter Beachtung von menschenrechten und ausgleichender Gerechtigkeit erfolgen kann. Grüne Politik muss sich dieser zukunftsrelevanten Debatte bereits heute stellen. Der BDK-Beschluss von Freiburg 2010 ist dem noch teilweise ausgewichen.
Völkerrechtliche Fragen
Bedauerlicherweise ist im Vorfeld des BDK-Beschlusses von Rostock der ursprüngliche Vorschlag aus der BAG Energie zur Rechtsproblematik nicht übernommen worden:
- Es bedarf einer Initiative, klimabedingte Flucht und Migration völkerrechtlich verbindlich zu definieren und anzuerkennen; eine solche Anerkennung ist mit einklagbaren Rechtsansprüchen zu verbinden.
Dieser Vorschlag war mit einem weiteren Hinweis verbunden, um klarzustellen, dass völkerrechtliche Regelungen nicht als Ermutigung, oder als Vorwand für internationale Migrationsbewegungen dienen sollten:
- Vorrang sollten jederzeit Maßnahmen haben, die von Klimawandel betroffenen Gruppen die Chance sichern, in ihrer Heimatregion unter menschenwürdigen Umständen weiter leben und arbeiten zu können.
Die bewusst offene Formulierung „es bedarf einer Initiative“ trägt der Tatsache Rechnung, dass die Klärung eines besonderen Rechtsschutzes für Klimaflüchtlinge a. schwierig und b. in der gegenwärtigen Debatte strittig ist. Die Genfer Flüchtlingskonvention berücksichtigt sie in der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. dazu Art.1 der Konvention). Innerhalb der UNO gibt es u.W. bisher keine offizielle Initiative, sich hier um eine rechtliche Klärung zu bemühen. Offenbar wird innerhalb des UNHCR und anderer in Flüchtlingsfragen engagierten Organisationen befürchtet, dass eine Ausweitung auf Klimaflüchtlinge die etablierten rechtlichen Schutzinstrumente für Flüchtlinge aufgrund von Verfolgung unterminieren könnte. In ähnliche Richtung argumentierte tendenziell auch der Vertreter von ProAsyl auf einer einschlägigen Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung im Juni 2010.
Wir halten diese Bedenken für zu defensiv und inhaltlich wenig überzeugend. Natürlich ist darauf zu achten, dass der Verfolgungstatbestand, als zentrales Kriterium für grenzüberschreitende Flucht, in keiner Weise aufgeweicht werden darf. Man wird dem allerdings allein dadurch entgehen können, dass man „klimabedingte Flucht“ als einen von „verfolgungsbedingter Flucht“ klar zu trennenden Tatbestand gesondert einführt und dann für diesen genuine, international einklagbare Rechtsansprüche definiert. Wie diese im einzelnen aussehen, sollte Gegenstand eines ergebnisoffenen Klärungsprozesses sein. Es ist vor allen Dingen wichtig, für den Einstieg in eine solchen Prozess initiativ zu werden.
Über die inhaltliche Gestaltung völkerrechtlicher Regelungen ist damit nichts vorgegeben; lähmend und angesichts des zu erwartenden Problemdrucks kontraproduktiv ist aber die Weigerung, sich ernsthaft für eine notwendige völkerrechtliche Klärung zu engagieren. Es drängt sich der Verdacht auf ein Eigeninteresse des UNHCR auf: nämlich die Erweiterung des eigenen Mandats aufgrund der bereits bestehenden hohen Belastungen und der finanziellen Unterausstattung zu vermeiden. Das ist inhaltlich nachvollziehbar, jedoch für eine Politik der verantwortungsvollen Zukunftsvorsorge nicht akzeptabel.
Zweifellos werden Definitionen, die zur rechtsförmigen Anerkennung von durch Klimawandel bedingter Flucht erforderlich sind, schwierig zu klären sein. Zumeist sind die auslösenden Faktoren für klimabedingte Migration und Flucht nicht monokausal, sondern vielfältig und komplex. Ist es z.B. überhaupt sinnvoll – und wie möglich – Migration aufgrund schleichender oder plötzlicher Umweltveränderungen von durch Klimawandel bedingter zu unterscheiden? Wie lassen sich in diesen Fällen push- von pull-Faktoren, Flucht aus schieren Notlagen oder zur ökonomischen Verbesserung unterscheiden? Wie lassen sich Zusammenhänge von Ressourcenverknappung durch Klimawandel und Vertreibungen durch gewaltförmige Konflikte operationalisieren?
Auf der anderen Seite gibt es relativ eindeutige Sachverhalte wie der Untergang von Inseln, die dauerhafte Überschwemmung von Küstengebieten, die definitive Desertifikation von Landstrichen – und solche Ereignisse werden in den kommenden Jahren zahllose Menschen zur Abwanderung aus ihrer Heimat zwingen.
Wir plädieren dafür, eine Debatte um völkerrechtliche Regelungen zu klimabedingter Migration von Seiten der Grünen anzustoßen. Wir sollten uns nicht davon entmutigen lassen, dass UNO-Organisationen und in humanitären wie in Flüchtlingsfragen engagierte NGOs hier eine bisher zu defensive Zurückhaltung üben. Dabei werden wir auch der Frage nicht ausweichen können, wo und in welcher Weise Klimaflüchtlinge in wirtschaftlich wohlhabenderen und weniger vom Klimawandel betroffenen Regionen quasi als Kontingente angesiedelt werden können. Vorschläge hierzu aus betroffenen Ländern sind auf jeden Fall ernst zu nehmen, wie etwa das Ansinnen von NGOs aus Bangla Desh, Klimaflüchtlingen in den für den Klimawandel verantwortlichen Ländern neuen Lebensraum zu gewähren – entsprechend dem über CO2-Emissionen quantifizierbaren Beitrag, den diese zur Entstehung der weltweiten Erderwärmung geleistet haben.