Sisyphos war ein glücklicher Mensch – zum 50. Todestag von Albert Camus

Vor 50 Jahren, am 4. Januar 2010, starb er bei einem Autounfall: Albert Camus, Schriftsteller, Journalist, Theatermacher und Philosoph. Sein Roman Die Pest, die Erzählung Der Fremde, Stücke wie Die Gerechten und philosophische Abhandlungen wie Der Mythos von Sisyphos und Der Mensch in der Revolte haben eine Generation europäischer Intellektueller geprägt. Nordafrikas Mittelmeerküste ist seine Geburtsstätte. Da der Vater in der Marneschlacht 1914 verblutete, wuchs das Kind in Algier als Halbwaise auf. In seiner posthum erschienenen Biographie Der erste Mensch schildert er, wie sein Kindheitsmilieu durch multikulturelle Vielfalt und koloniale Unterdrückung geprägt war, eine widersprüchliche Vermengung, an deren Wirkungen die algerische Gesellschaft bis heute laboriert.

Armut – seine Mutter war Analphabetin – und die Sonne des Mittelmeers haben den Stil Albert Camus‘ geprägt. Er schreibt klar, ohne ausschweifenden Dekor, beschränkt sich auf für wesentlich erachtete Aussagen. Wenn er konnte, zog er aus Paris, seinem späteren Wohn- und Arbeitssitz, in die lichtvolle Stadt Lourmarin, am Rand der provenzalischen Berge gelegen. „Mediterran denken“, das war für ihn eine Verbindung von sonnendurchflutetem Geist und unbändiger Freiheitsliebe.

Der Existentialismus mittel- und nordeuropäischer Prägung hat ihn stark beeinflusst, doch blieben ihm Traditionen besonders der deutschen Philosophie zeitlebens suspekt. In der Résistance hat er gegen die Naziherrschaft gekämpft. Und der Juniaufstand der Berliner Arbeiter 1953 sowie der ungarische Volksaufstand 1956 haben ihn aufmerksam gemacht für totalitäre Tendenzen, die in Theorien mit einem umfassenden Anspruch auf Erkenntnis und auf Veränderung der Gesellschaft von Grund auf angelegt sind

Gegen Staatsmachtphantasien im Marxismus setzte er auf ein „revoltierendes Denken“, politisch neigte er eher zum Anarchosyndikalismus, zu dem er Zeit seines Lebens Verbindung suchte. Seine Kritik am Staatssozialismus und ihrer geistigen Unterstützer führte zur Kontroverse mit Sartre, die in der Zeitschrift Les Temps Modernes ausgefochten wurde. Sartre warf Camus einen inkonsequenten Humanismus vor, weil er sich der engagierten Parteinahme für die marxistische Linke verweigere. Camus konterte mit den Verbrechen und der Unterdrückung in staatssozialistischen Ländern und hielt Sartre politische Einäugigkeit vor. Der Gang der Geschichte hat die Kontroverse entschieden.

Wenige Schriften haben das Lebensgefühl westeuropäischer Intellektueller der 50er und 60er Jahre so geprägt wie Der Mythos von Sisyphos (erschienen 1943) und Der Mensch in der Revolte (erschienen 1952). Das gilt auch für Westdeutschland um 1960. Die Übersetzung des Sisyphos erschien als Rowohlt-Taschenbuch 1959 und war dann alle halbe Jahre regelmäßig vergriffen. Die Wirkung Camus‘ auf die politische Kultur war in Frankreich und Deutschland aber verschieden. Dort rechtfertigte sie ein distanziertes Engagement in der Politik, eine Hinwendung auf Abstand, hier führte sie zu einer engagierten Distanz, zu einer zugleich zornig gewollten Nichteinmischung in die Bonner Republik der Adenauer-Ära.

In der deutschen Studentenbewegung 1967/68, wie im französischen Mai 1968, ist die kritische Verweigerung von Politik einer um so entschiedeneren Einmischung gewichen, die in manchem der existentiellen Revolte gleicht, wie Camus sie in seinem zweiten philosophischen Buch darstellt. Eine Liebe zu Freiheit und Gerechtigkeit zeichnet den Geist der Menschlichkeit aus. Da jedoch das wirkliche Leben von Knechtschaft und Unterdrückung, von Lüge und Verschweigen bestimmt ist, müssen wir – um zu „Menschen“ zu werden – aufbegehren. In Akt der Revolte zerreißen wir die Ketten unserer gesellschaftlichen und geistigen Versklavung. „Die Freiheit, die der Revoltierende fordert, fordert er für alle. Er ist nicht nur Sklave gegen den Herrn, sondern auch Mensch gegen die Welt von Herr und Knecht“.1

Trotz ihrer anfänglich deutlich existentialistischen Züge hat die 68er Bewegung dieses Lebensgefühl, das sie in Camus‘ Schriften finden konnte, bald verdrängt. Das hat viele Gründe, wie die Hinwendung junger Rebellen zur marxistischen Tradition, die Hoffnung, in diesen Theorien ein inneres Band zu finden, das die Gesellschaft zusammenhält – und an dem sie vielleicht zerrissen werden kann. Einen solchen Anspruch verwirft Camus als hybride, als einen Wendepunkt, letztlich Abkehr von der Revolte, wodurch diese in Gewalttätigkeit und in die Vorbereitung neuer Unterdrückung umschlagen kann.

Entsprechend hielt er der marxistischen Theorie „unglaublichen Ehrgeiz“ und „maßlose Voraussagen“ über eine zu erwartende Zukunft vor.2 Der globale Entwurf einer gerechten Gesellschaft ersetze „Gott durch die Zukunft“,3 ihre Revolutionstheorien transponierten die Erlöserfigur eines Christus in völlig überzogene Erwartungen an das moderne Industrieproletariat. Nur ein „logisches Monstrum“4 seien die Theorien materialistischer Welterklärung von Engels bis Bucharin.

Kern seiner Kritik ist die These, dass jeder Versuch einer umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft zu verstärkter Kontrolle und Gängelung der Bevölkerung führt. Wer durch Staatshandeln Lebensformen und Alltagskulturen verändern will, errichtet damit nur neue Gehäuse der Hörigkeit und konserviert zudem archaische Verhaltensweise, statt den vielbeschworenen „neuen Menschen“ zu schaffen. An der Offenbarung gehässiger und vorurteilsvoller ethnischer Abgrenzung und an verbreiteter Fremdenfeindlichkeit war seit 1990 in postsozialistischen Ländern zu studieren, wohin die Erziehung des Menschen in angeblich „internationaler Solidarität“ unter autoritärer Staatskontrolle führen kann.

Selbstbeschränkung in der Revolte – das kam bei sehr vielen Aktiven der 68er Zeit nicht sonderlich gut an. Dass die Schriften von Camus aus dem politischen Diskurs jener Zeit bald verschwanden, überrascht daher nicht. Und doch hätten Herausforderer des Bestehenden aus dem „Mythos des Sisyphos“ lernen können. Sie konnten lernen, dass dem Überschwang engagierter Einmischung zwar die bittere Erfahrung der Niederlage folgt, Katzenjammer, Verzweiflung und Resignation aber genau die falsche Reaktion darauf sind.

Dem griechischen Heroen Sisyphos haben die Götter als nicht endende Strafe „eine unnütze und aussichtslose Arbeit“5 auferlegt. Er muss einen gewaltigen Stein aufwärts wälzen, der kurz vor Erreichen des Gipfels regelmäßig in den Abgrund rollt. „Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Zustand ist genauso absurd.“6 Neben den Entfremdungen der Arbeitsgesellschaft legt der Mythos des Sisyphos eine existentielle Grundbefindlichkeit dar. Camus nennt sie die Erfahrung der Absurdität unseres Daseins.

Die Absurdität liegt in einem ständigen und unaufhebbaren Widerspruch: Wir verlangen nach Sinnstiftungen und wissen doch, dass unser Leben durch Ereignisse bestimmt – und beendet – wird, in denen kein Sinn zu entdecken ist. Wir suchen nach Klarheit, nach Erklärungen in dieser Welt und müssen doch hinnehmen, dass die Dinge fremd und unbegreiflich bleiben:

„Wenn ich Baum unter den Bäumen wäre, Katze unter den Tieren, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr: Dieses Problem bestünde überhaupt nicht, denn dann wäre ich ein Teil dieser Welt. Ich wäre diese Welt, zu der ich mich jetzt mit meinem ganzen Bewusstsein und mit meinem ganzen Anspruch auf Vertrautheit im Gegensatz befinde. Eben diese so höhnische Vernunft setzt mich in Widerspruch zur ganzen Schöpfung.“7 Selbst unser Ich können wir nicht fassen: „Wenn ich es zu definieren und zusammenfassend zu bestimmen versuche, dann zerrinnt es mir wie Wasser zwischen den Fingern.“8

Ein Scheitern der Revolte ist geradezu vorprogrammiert. Der Versuch, eine gerechte und freie Gesellschaft zu schaffen, führt mit der Regelmäßigkeit wieder herabrollender Steine zu Rückschlägen. Das gesellschaftliche Eldorado, das viel beschworene utopische Paradies der Freiheit und Geschwisterlichkeit wird es nicht geben, können wir doch nicht einmal die Abgründe und Rätsel menschlichen Verhaltens ausleuchten, die immer wieder vom Weg in eine bessere Welt abführen.

Gerade darum aber dürfen wir den Versuch nicht ausgeben, eine bessere Welt zu schaffen. Wir sind dann und insofern frei, wenn wir gegen Elend, Unterdrückung und Ungerechtigkeit revoltieren – und wir sind es um so mehr dann, wenn wir das im Bewusstsein der Absurdität, im Wissen um die letztliche Chancenlosigkeit tun. Frei handeln wir wie der Arzt Rieux im Roman „die Pest“, der entschieden, nüchtern und in Kenntnis aller Risiken der mörderischen Seuche in der Stadt Oran entgegentritt. Und sich in dem Moment wieder abseits hält, als die Bewohner das Ende der Seuche feiern. Weil er weiß, dass die Pest die Menschen immer aufs neue heimsucht, in welcher Art, in welcher Gestalt auch immer.

Camus‘ Tod war selber ein Beispiel für Absurdität. Als Beifahrer eines vollbesetzten Pkw verendete er, mit seinem Freund und Verleger Gallimard, am 4. Januar 1960 an irgendeinem Straßenbaum, in irgendeinem Dorf bei Paris. Ohne erkennbaren Grund war der Wagen von der Fahrbahn abgekommen.

Fünfzig Jahre nach seinem Tod will Frankreichs Präsident den Sarg mit einer pompösen Zeremonie in das Pantheon überführen. Eine staatstragende und staatsbejahende Ehrung ist dem lebenslangen Anliegen des Albert Camus jedoch nicht angemessen. Sie widerspricht seinem Aufruf zur Revolte, zum Widerstand gegen Herrschaft und Ungerechtigkeit, trotz der Erfahrung zu scheitern, trotz des Wissens, dass die Steine immer wieder abwärts rollen. In der Revolte kann der Mensch einen zugleich sinnlosen Lebenssinn finden. „Glück und Absurdität entstammen ein- und derselben Erde.“9 Sisyphos müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen.

1 Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1969, S. 230.

2 Ebenda, S. 169.

3 Ebenda, S. 169.

4 Ebenda, , S. 161.

5 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1959, S. 98.

6 Ebenda, S. 99.

7 Ebenda, S. 47.

8 Ebenda, S. 21.

9 Ebenda, S. 100.

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