Nuklearterror und der Umgang mit Großrisiken

Erschienen in: L. Mez/L. Gerhold/ G. de Haan (Hrsg.): Atomkraft – ein Risiko?
Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Lang Verlag 2010.
von Hartwig Berger

Warum versagen moderne Gesellschaften beim Management nuklearer Risiken? Das Problem wird am Scheitern des probabilistischen Zugangs in der Einschätzung nuklearer Risiken sowie vor allem an Unzulänglichkeiten in der präventiven Beachtung von möglichem Nuklearterrorismus dargelegt. Gründe für das Versagen werden aus soziologischer Sicht erörtert.

The article wants to show, that preventive risk management of possible nuclear terrorism is clearly insufficient. Arguments and explanations a forwarded from a sociological point of view, which concern the handling of great risks in modern societies in general.

Ein Vierteljahrhundert nach der Tschernobyl-Katastrophe hat die Debatte um nukleare Risiken andere Akzente bekommen. Spätestens seit dem 11. September 2001 wird neben der Möglichkeit intern verursachter Systemunfälle wieder stärker die Gefahr diskutiert, dass nukleare Katastrophen gezielt „von außen“ herbeiführbar sind. Allerdings kontrastiert die zeitweilig hohe Intensität von Debatten über Nuklearterror auffallend damit, dass es bisher praktisch keine erkennbaren Aktivitäten gibt, dieses Risiko zu minimieren.

So wurde allen in Deutschland betriebenen Atommeilern bisher kein zusätzlicher Schutz installiert – weder die von Betreibern anfänglich befürwortete Vernebelungstechnik noch der Bau großer vorgelagerter Betonpfeiler, die geeignet sein sollten, Flugzeugangriffe „abzufedern“. Der mehrfach vorgebrachte Vorschlag, die unzureichend gesicherten Kraftwerke älterer Bauart vorzeitig abzuschalten und deren Laufzeitrechte auf neuere Anlagen mit relativ besseren Schutzvorkehrungen wie einer stärkeren Betonumwandung zu übertragen, führt zwar immer wieder zu Debatten, jedoch bisher nicht zu irgendwelchen praktischen Konsequenzen.

So war es im Herbst 2002, gerade ein Jahr nach der Zerstörung der Twin Towers, per Machtwort des damaligen Bundeskanzlers sogar möglich, dem ältesten und besonders verwundbaren Meiler in Deutschland, dem Kraftwerk Obrigheim am Neckar, noch eine fast dreijährige Laufzeitverlängerung zu gewähren. Statt mit dem wenige Monate zuvor verabschiedeten Atomgesetz schlechter zu schützende Kraftwerke vorzeitig stillzulegen und einen zumindest kleinen Sicherheitsgewinn durch Laufzeitübertragung auf jüngere und besser geschützte Meiler zu erreichen, wurde genau der umgekehrte Weg beschritten. Wenn gegenwärtig Parteien wie die CDU/CSU und die FDP generelle Laufzeitverlängerungen durchsetzen wollen, wird die unbewältigte Gefahr möglichen Nuklearterrors wieder auf wundersame Weise verdrängt.

Als – bewusste oder unbewusste – Strategie der Handlungsvermeidung lässt sich auch die Haltung des Bundes-Innenministeriums zur Nuklearsicherheit interpretieren. Besondere Schutz- oder Vorbeuge-Maßnahmen seien nicht erforderlich, da und solange es keine Anhaltspunkte für gezielten Nuklearterror gibt. Übersehen oder bewusst ignoriert wird hier, dass an Atomkraftwerke noch Monate nach ihrer Abschaltung gezielt eine Zerstörung mit massiver Freisetzung von Radioaktivität herbeigeführt werden kann.

Der Umgang mit der Möglichkeit von Nuklearterror ist – so scheint es – durch einen Mangel an handlungsleitender Rationalität und durch ein hohes Maß an Problemverdrängung gekennzeichnet. Strukturen dieses Umgangs und möglichen Erklärungen geht diese Analyse nach .

1. Die „Normalität“ nuklearer Systemunfälle

Dass mangelnde Rationalität und Problemverdrängung auch in der Wahrnehmung interner Risiken der Atomkraftnutzung wirksam sind, soll anknüpfend an die Studie von Charles Perrow dargelegt werden, die mehrere Typen technischer Großrisiken analysiert . Perrow folgt einem systemtheoretischen Ansatz, der die Funktionsweise technischer Systeme als Interaktion ihrer Teile und Teilsysteme einschließlich ihrer Beziehungen zu handelnden Personen untersucht. Als exemplarische Folie für die Nukleartechnik dient ihm der Unfall am Reaktor „Three Miles Island“ bei Harrisburg/USA 1979, der nur aufgrund glücklicher Umstände nicht in einen SuperGAU eskalierte.

Perrow legte dar, dass Systemunfälle an Atomkraftwerken mit nicht beherrschbaren Folgen als „Normalfall“ im Betrieb zu betrachten sind. Großtechnische Systeme arbeiten in dichten und hochkomplexen Wechselbeziehungen vieler Teilsysteme, Arrangements und Ereignisse, die sowohl intern wie in und mit der Umgebung ablaufen. Dass es immer wieder zu unvorhergesehenen Abweichungen vom geplanten Ablauf kommt, ist daher „normal“. Unabhängig von der Häufigkeit ihres Auftretens sind „Störfalle“ ein Regelfall im System des Reaktorbetriebs.

Aufgrund der engen Rückkoppelungen im System haben unerwartete Abweichungen fast immer Folgen auf andere Komponenten und können zu weiteren unvorhergesehenen Interaktionen führen. Wegen der Komplexität sind solche Rückkoppelungen zwar nachträglich durchschaubar, im Regelfall jedoch nicht zum Zeitpunkt ihres Auftretens. Vergegenwärtigen wir uns, dass der Ereignisablauf von Unfällen in Atomkraftwerken oft erst nach länger andauernden Untersuchungen nachvollziehbar wird. Vom handelnden Personal im Kraftwerk wird hingegen erwartet, dass es ungewöhnliche Ereignisketten binnen weniger Minuten oder Sekunden zutreffend abschätzt. Im Fall „Three Miles Island“ mussten zentrale Entscheidungen zur Behebung eines Störfalls innerhalb von 13 Sekunden getroffen werden. In diesem Fall beruhten sie auf Fehleinschätzungen und verschlimmerten die Lage.

Die irregulären Prozesse und Interaktionen in der Nuklearanlage können im Extremfall zum Versagen des Systems insgesamt, damit zum befürchteten SuperGAU führen. Dabei ist die Eintrittswahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe nicht bestimmbar.

Perrows Studie hat die deutsche Debatte um Gefahren der Atomkraftnutzung wenig geprägt. Befürworter einer weiteren Nutzung haben sie ignoriert. Sie verteidigen weiterhin die Auffassung, dass die Möglichkeit eines SuperGAUs zwar nicht völlig auszuschließen sei, jedoch für laufende Anlagen in den Bereich extremer Unwahrscheinlichkeit zu verbannen sei und in künftigen Reaktoren durch ein Konzept der „inhärenten Sicherheit“ vollständig vermieden werden könne. Auf den ersten Blick spricht für ihre Einschätzung die Tatsache, dass es in den vielleicht 10.000 bisherigen Reaktorbetriebsjahren auf der Erde nur in einem belegten Fall, am 26. April 1986 in Tschernobyl, zur Katastrophe gekommen ist. Daraus auf die minimale Wahrscheinlichkeit ähnlicher Ereignisse in der Zukunft zu schließen, ist jedoch nicht möglich.

Dem nuklearen Risiko-Pessimismus wird daher mit dem Argument begegnet, dass „Tschernobyl“ durch irreguläre und verantwortungslos durchgeführter Experimente am Reaktor verursacht wurde, wogegen im „Normalfall“ des AKW-Betriebs Unfälle, die ein Versagen des Systems und seine partielle Zerstörung zur Folge haben, „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ auszuschließen sind. Der Fall „Harrisburg“ und anderer Beinahe-Kernschmelzen werden dabei gerne übersehen.

Der nukleare Risiko-Optimismus wird nicht nur durch Berufung auf bisherige Erfahrungen gestützt, sondern mit differenzierten Analysen unterbaut, die die (Un-)Wahrscheinlichkeit bestimmter Unfälle zu berechnen suchen. Der „Rasmussen-Report“ oder die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke von 1979 sind dafür Beispiele.

Der Versuch einer probabilistischen Bestimmung nuklearer Risiken gleicht jedoch eher einem Ritual der Selbstberuhigung als ernsthaft betriebener Zukunftsforschung. Es nicht nachvollziehbar, wie man in der Modellierung möglicher Irregularitäten in einem derart hochkomplexen System zu quantitativ nur einigermaßen verlässlichen Aussagen kommen soll . Die Teilelemente des Systems sowie ihre Wechselbeziehungen und Rückkoppelungen sind derart vielfältig und unterschiedlich, dass quantitative Wahrscheinlichkeitsprognosen über mögliche Ereignisse nicht möglich sind. Die Eintrittswahrscheinlichkeit lässt sich allenfalls für isolierte Einzelphänomene im Ablauf bestimmen, spätestens in der Gewichtung und Kombination mehrerer Ereignisebenen im komplexen System wird das scheitern. Wahrscheinlichkeitsaussagen zu nuklearen Unfällen bleiben zwangsläufig willkürlich.

Wie wollen wir etwa die Wahrscheinlichkeit fixieren, dass eine radioaktive Verunreinigung im Reaktor, auslösender Faktor des Unfalls von Harrisburg, nicht das zweite Kühlsystem in Mitleidenschaft zieht, sondern die pneumatischen Apparate, die den Luftdruck der Wasserventile regeln? Mit welcher Wahrscheinlichkeit konnte es – wieder in Harrisburg – dazu kommen, dass das Bedienungspersonal die automatische Abschaltung der Turbine falsch interpretiert und infolgedessen falsch und problemverstärkend auf einen festgestellten Defekt reagiert? Man schaltete bekanntlich in Harrisburg anschließend das Notkühlsystem ein, dessen Ventile bei einer kürzlich erfolgten Reparatur versehentlich geschlossen blieben. Wie wahrscheinlich war dann dieser zuletzt genannte Fehlgriff? Wie wahrscheinlich ist es, dass er nicht bemerkt wird (eine dazu informierende Anzeige war in Harrisburg durch einen Reparaturzettel überklebt)? Wir haben damit nur den Beginn eines längeren Prozesses von Defekten, Rückkopplungen von Ereignissen und Fehldeutungen, welche die Katastrophe von Harrisburg auslösten. Solche Fehlfunktionen und solches Fehlverhalten vorab in Wahrscheinlichkeitsberechnungen erfassen zu wollen, erscheint vermessen.

Ein Scheitern des probabilistischen Ansatzes musste die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke selbst eingestehen, versäumte es allerdings daraus systematische Schlüsse zu ziehen. Zur Analyse wird dort bemerkt:

„Dem Auftrag entsprechend wurde der Risikobeitrag durch Kriegseinwirkungen, Sabotage und ähnliches nicht untersucht. .(Auch) nicht geplante Eingriffe des Betriebspersonals, die die Auflösung und Beherrschung (( auch die Entstehung!!) von Störfällen beeinflussen können, wurden nicht berücksichtigt“

Auf S. 243 der Studie wird hingegen zugegeben:
„Der größte Beitrag zur Häufigkeit von Kernschmelzen kommt durch menschliche Fehlhandlungen zustande“.

Gewissheiten über das Risiko eines SuperGAUs sind nur ex post – und dann nur scheinbar – zu erlangen, nämlich mit der empirischen Feststellung, dass es bisher in etwa 10.000 Reaktorbetriebsjahren nur einmal zur wirklichen Katastrophe gekommen ist. Den Alltagsverstand mag das vorerst beruhigen, so wie wir auch geneigt sind, uns aufgrund lange ausgebliebener schwerer Erdbeben in einem prinzipiell gefährdeten Gebiet in Sicherheit zu wiegen. Die meisten Bewohner San Franciscos leben in und mit dieser Scheingewissheit. Ähnlich erging es den Menschen in New Orleans, einer Stadt, für die auch vor dem Hurrikan „Katrin“, Spätsommer 2005, die Möglichkeit einer vollständigen Überschwemmung immer diagnostiziert wurde.

Derartige Scheingewissheiten können unter Lebensumständen, die nicht beeinflussbar sind, durchaus nützlich und hilfreich sein. Für Sicherheitserwartungen an die Atomkraftnutzung ist das angesichts des zu erwartenden Schadensausmaßes jedoch zu anspruchslos und schlicht leichtfertig.

Der nukleare Risiko-Optimismus ist methodisch mit dem Dilemma des Induktionsschlusses konfrontiert, in dessen Kritik die Erkenntnistheorie seit Kants Zurückweisung des Empirismus Humescher Prägung und im 20. Jahrhundert die Wissenschaftstheorie zu eindeutigen Resultaten gekommen sind: Aus der wiederholten oder geregelten Abfolge bestimmter Ereignisse lassen sich zwar psychologische Sicherheiten für zukünftige Fälle gewinnen, zuverlässige Schlüsse über zukünftige Ereignisfolgen oder die Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignistypen können aus diesen Erfahrungswerten jedoch nicht gezogen werden. Am klassischen Schulbeispiel: Die Alltagserfahrung lehrt, dass alle Saatkrähen, denen wir in unserem Lebensraum bisher begegnet sind, ein schwarzes Federkleid haben. Das rechtfertigt den Schluss „alle Saatkrähen sind schwarz“ nur dann, wenn wir ihn aus gut bestätigten Gesetzeshypothesen anderer Art (etwa zur genetischen Struktur von Rabenvögeln) ableiten können. Die Ereignisfolge selbst lässt keinen Grund erkennen, der ausschließt, dass demnächst einmalig, in großer Zahl, vielleicht selbst überwiegend weiße Saatkrähen in Erscheinung treten.

Prinzipiell in derselben Situation befinden wir uns mit Abschätzungen zum zukünftigen Verhalten von Atomanlagen. Die ex post Feststellung, dass ein vollständiger Systemunfall bisher nur einmal vorgekommen ist, erlaubt keine Prognose über die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse in Zukunft. Viele werden sich dennoch auf ihren Alltagsverstand verlassen, der ihnen die Zuversicht gibt, dass bisher ausgebliebene Ereignisse auch in Zukunft nicht eintreten würden. Wissenschaftlich begründbar ist eine solche „Zuversicht“ jedoch nicht.

Der Begriff des „Risiko“ ist als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenssumme eindeutig und handhabbar formuliert. Wenn wir diesen Begriff auf die Abschätzung von Gefahren aus dem Betrieb von Atomkraftwerken anwenden, müssen wir zunächst zur Kenntnis nehmen, dass weder die Eintrittswahrscheinlichkeit noch die Schadenssummen wirklich kalkulierbar sind. „Tschernobyl“ ist dafür geradezu ein Präzedenzfall. Noch ein Vierteljahrhundert danach hat sich die wissenschaftliche community nicht annähernd über die Zahl der Opfer – der Todesfälle, der Erkrankungen, der zukünftig zu erwartenden Erkrankungen – einigen können. Und das, obwohl wenige Katastrophen in ihren Auswirkungen so gründlich analysiert worden sind wie jener SuperGAU im Frühjahr 1986. Es versteht sich, dass Risiko-Optimisten zur Schadenssumme deutlich günstigere Einschätzungen errechnen als Risiko-Pessimisten. Aber daraus können wir eben nicht schließen, welche der verschiedenen Berechnungen zutreffen und welche nicht. Wir müssen von bleibenden Ungewissheiten ausgehen, die unter anderem damit zusammenhängen, dass die komplexen Kausalitätsketten für Morbidität und Mortalität schwer bis überhaupt nicht rekonstruierbar sein. Und so unterscheiden sich fachwissenschaftliche Ergebnisse schon dann erheblich, wenn es „nur“ um die Häufung von Leukämie oder anderer Krebserkrankungen in der Umgebung von Atomkraftwerken geht.

Wenn Schadenssummen nuklearer Unfälle selbst ex post nicht zuverlässig fixierbar sind, muss ihre genaue Berechnung ex ante erst recht scheitern. Zur Abschätzung von Eintrittswahrscheinlichkeit wie vom möglichen Ausmaß nuklearer Risiken bewegen wir uns in einem Meer der Ungewissheit.

2. Für einen differenzierten soziologischen Risikobegriff

Zum Verständnis des Umgangs mit Nuklearterror sind weitere Erläuterungen zum Risikobegriff erforderlich. Für unser Problem ist der gebräuchliche handlungstheoretische Ansatz zu eng, der Risiken als Einschränkungen der Lebensmöglichkeiten für Individuen versteht. Ihm folgend wäre es zureichend, Einstellungen und Verhalten zu Risiken hinsichtlich individueller Schadenserwartungen zu analysieren. Im Lichte dieses Ansatzes erscheint es dann z.B. rational nicht nachvollziehbar, dass die Beunruhigung durch den SuperGAU von Tschernobyl in weit entfernten Regionen mit unstrittig geringeren radioaktiven Kontaminationen teilweise größer war als in nähergelegenen Gebieten. Mit dem handlungstheoretischen Risiko-Ansatz ist auch nicht zu verstehen, warum Protest und Widerstand gegen die Errichtung nuklearer Endlager oft besonders stark ausfallen. Denn die konkrete Gefährdung durch solche Lager fällt in Zeiträume, die über das Lebensalter der jetzt Protestierenden weit hinausreichen.

Zweifellos ist der handlungstheoretische Risikobegriff geeignet, etwa das individuelle Risiko des Rauchens oder der Unfallgefährdung bei Nutzung bestimmter Verkehrsmittel abzuschätzen. Für viele Fälle von Risiko-Wahrnehmung ist das jedoch unzureichend. Es erscheint erforderlich, einen zur Analyse des Umgangs mit technischen Großrisiken geeigneten Risikobegriff um zumindest die folgenden Aspekte zu erweitern:

Mögliche Beispiele sind Tankerunfälle, räumlich begrenzte Umweltverschmutzungen oder Klimaveränderungen in einem überschaubaren Gebiet. Aus dem Nuklearbereich wären hier räumlich begrenzte radioaktive Kontaminationen zu nennen.

Das Beispiel„Klimaveränderungen“ macht deutlich, dass es ggf. um mehr als die Verschlechterung von Lebensumständen geht:

  • ganze Erdregionen können unbewohnbar werden
  • Eine neue Eiszeit kann den nordatlantischen Raum überziehen, wenn die Wärmezufuhr des Golfstrom mit einer Veränderung des osmotischen Drucks im Ozean – verursacht durch abschmelzende Eismassen – abbricht.
  • Ein hoher weltweiter Verlust von landwirtschaftlich nutzbaren Flächen durch Desertifikation und Überschwemmung kann bei wachsender Bevölkerung zu globalen Hungersnöten mit unabsehbaren Folgen führen.

Für unsere Begriffsklärung heißt das:

Klimaveränderungen, aber auch Systemunfälle von Atomkraftwerken decken alle genannten Bereiche von Risiken ab. Sie sind von umfassender Art und können selbst den Fortbestand von Gesellschaften in Frage stellen. Sie sind bedrohlich wegen bleibender Unklarheiten über ihre unklaren Auswirkungen und wegen der schwierigen Eingrenzbarkeit der Raum- und Zeithorizonte, in denen sie wirken.

Möglicherweise ist es gerade die Unbestimmbarkeit der Gefahr in ihren Ausmaßen, ihre Nicht-Eingrenzbarkeit in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht sowie die Möglichkeit, dass solche Ereignisse die Funktionsfähigkeit von Gesellschaften überhaupt in Frage stellen können, die dazu führen, dass der Umgang mit nuklearen Großrisiken wie der Gefahr von Nuklearterror wenig zweckrational und wenig durch pragmatische Strategien der Risikoverminderung gekennzeichnet sind. Dieser Vermutung sei jetzt nachgegangen.

3. Nuklearterror und asymmetrische Gewaltkonflikte

Nach dem 11. September setzte in Medien wie Politik eine Debatte darüber ein, ob ein weltweit agierender Terrorismus eine neue Qualität gewonnen hatte. Überlegungen dazu betrafen zum einen die Bereitschaft der Akteure, ihre Zerstörungskraft durch Selbstmordbereitschaft zu steigern. Zum anderen wurde befürchtet, dass das angestrebte Ausmaß der Schäden und die Einbeziehung Unbeteiligter in die Gewalthandlung insgesamt zunehme. In diesem Zusammenhang nahmen Experten an, dass die gezielte Nutzung von Massenvernichtungswaffen nicht ausgeschlossen werden könne. Ein hier vielfach genannter Aspekt war und ist eine radioaktive Verseuchung durch sog. “schmutzige Bomben“ oder selbst der Einsatz von Atomwaffen. Einfacher erscheint allerdings eine Strategie, die das hohe Selbstgefährdungspotential moderner Gesellschaften gezielt nutzt, indem sie z.B. Systemunfälle an laufenden Atomkraftwerken durch Angriffe von außen (oder von innen) erzeugt.

Wie real ist die Gefahr solcher terroristischer Eskalationen? Ihre Möglichkeit jedenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, denn:

Terror, der sich in größeren politischen Konfliktzusammenhängen entwickelt, kann man soziologisch als asymmetrischen Gewaltkonflikt definieren. Der einen Konfliktpartei fehlt dabei jegliche staatsrechtliche Legitimation der Gewaltausübung und sie verfügt auch nicht über einen öffentlich darstellbaren Apparat der Kriegführung. Den staatlich organisierten Gegenparteien ist sie an militärischer Schlagkraft klar unterlegen. Sie wird diese Asymmetrie durch Strategien der konsequenten Klandestinität, durch gesteigerte ideologische Mobilisierung ihrer Anhänger, durch verdecktes Handeln und Überraschungsschläge und auch durch Terror gegen Gruppen der Zivilbevölkerung auszugleichen suchen.

Wenn ein Konflikt zeitlich andauert und im Zerstörungshandeln eskaliert, kann die klandestine Partei vor die Entscheidung gestellt sein, die Eskalation so fortzusetzen, dass sie ihre militärische Unterlegenheit durch Nutzung des Selbstgefährdungspotentials im gegnerischen Staat kompensiert. Sie wird dann möglicherweise überlegen, ob sie sich gezielt der Großrisiken im Land, der Technikstruktur oder der Siedlungsgebiete des gegnerischen Staats als Waffen bedient. Entscheidet sie sich gegen alle humanitären und moralischen Bedenken dafür, ist es „nur“ eine Frage der Strategie und der logistischen Fähigkeiten, ob z. B. Chemiefabriken mit tödlichen Giften zur Explosion gebracht, Trinkwasserreservoirs vergiftet, Viren in Umlauf gebracht – oder auch Atomkraftwerke zerstört werden.

Über das Ziel der vierten Maschine, deren Absturz alle Passagiere in den Tod riss, wurden nach dem 11.September 2001 viele Vermutungen angestellt. Als eine Hypothese war zeitweise der Reaktorkomplex „Three Miles Island“/Pennsylvania im Gespräch, der 1979 Schauplatz eines fast Super-GAUS gewesen ist. Inzwischen scheint festzustehen, dass das Weiße Haus in Washington Angriffsziel gewesen ist. Gefundene Dokumente belegen allerdings auch, dass in Al Qaida Kreisen Angriffe auf Atomkraftwerke überlegt wurde, man das aber wegen der unabsehbaren und langfristigen Folgeschäden wieder verwarf.

A priori können wir nicht annehmen, dass das mögliche Ausmaß einer gezielt herbeigeführten Nuklearkatastrophe die potentiellen Akteure wirklich abschreckt. Im Kalkül des Terrors kann die Sprengung eines Atomkraftwerks als eine fürchterliche und gerade deshalb wirkungsvolle Waffe angesehen werden. Spätestens seit dem 11. September müssen alle Industriegesellschaften, die über Atomanlagen mit hohem Selbstgefährdungspotential verfügen, jedenfalls die prinzipielle Möglichkeit solcher Angriffe in Betracht ziehen, sofern sie überhaupt Gründe zur Annahme haben, sie könnten zu einem Schauplatz asymmetrisch geführter Kriege werden. Und so war nach dem Angriff in den USA der mögliche Nuklearterror ein Gegenstand öffentlicher Debatten und staatlich eingeleiteter Überlegungen in vielen Ländern mit Kernkraftwerken. Wir wollen das am Beispiel Deutschland verfolgen, um aus der Analyse zu lernen.

An der deutschen Debatte fällt auf, dass sie sich fast völlig auf den Angriffsfall mit gezielten Flugzeugbomben beschränkte und beschränkt. Aufgrund der Ereignisse in New York und Washington ist das menschlich nachvollziehbar, aus politikwissenschaftlicher Sicht jedoch unverständlich. Flugzeugbomben sind nur eine Form der Ausübung von Nuklearterror. Angriffe mit ihnen sind aufwendiger in der Vorbereitung und Realisierung als direkte Angriffe auf Nuklearanlagen. Eine 19köpfigeGreenpeace-Gruppe ist am 13.01. 2003 ungehindert und unbewaffnet in das AKW Sizewell in Großbritannien eingedrungen und erreichte selbst das Innere des Reaktorgebäudes. Erst nach 25 Minuten waren Sicherheitsbeamte zur Stelle . Es sei schwieriger, in dieses – für besonders sicher deklarierte – Atomkraftwerk zu gelangen als in einen Nachtclub der benachbarten Stadt Norwich, bemerkte der Aktionsleiter anschließend.

Ein weniger spektakuläres Beispiel im September 2004, an dem der Autor beteiligt war: Eine Gruppe atomkritischer Aktivisten steuerte per Schiff vor das AKW Philippsburg am Rhein, und simulierte von dort mit der Attrappe einer Laserkanone einen Raketenangriff. Im Ernstfall hätte einem Anschlag dieser Art nichts im Weg gestanden.

4. Expertisen als Handlungsersatz

In der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit gezielter Flugzeugabstürzen konnte in Deutschland anfänglich von Verdrängung nicht die Rede sein. Es war durchaus kein Einzelfall, wenn der zuständige Minister für Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin, in einer Bundestagsdebatte zwei Wochen nach dem 11.September erklärte:

„Nach dem 11.9. wird nie wieder jemand den Absturz eines Flugzeuges auf ein Atomkraftwerk als Restrisiko bezeichnen können. Und dass dieses Restrisiko als vernachlässigbar hinzunehmen sei, ist heute unverantwortlich“.

Den deutlichen Worten entsprach eine schnelle Reaktion des Ministeriums, das bereits am 17. September von einem wichtigen Beratungsgremium, der Reaktorsicherheitskommission (RSK) eine Stellungnahme zur folgender Frage einforderte:

„Sind die bestehenden Atomkraftwerke gegen gezielten Absturz von zivilen Großflugzeugen mit vollem Tankinhalt geschützt und welche Schadensszenarien sind zu erwarten?“

Im Lichte der bestehenden Regelungen und jahrzehntelanger Fachdiskussionen allerdings muss die Fragestellung dennoch überraschen. Welche Folgen Flugzeugabstürze haben können und welche Vorkehrungen möglich bzw. nicht möglich sind, war seit Beginn der „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie des öfteren Gegenstand von Tagungen, Expertisen und Experimenten. In Fachseminaren wurden bereits in den 70er Jahren zumindest in Deutschland Modellrechnungen vorgestellt und Annahmen über die Belastbarkeit von Anlageteilen entwickelt. Festgestellt wurde dabei, dass eine ausreichende Sicherung bestehender und geplanter Atomanlagen selbst gegen kleinere Militärmaschinen nicht gewährleistet ist und dass es – ebenso wenig überraschend – über zu erwartende Schadensszenarien „noch“ keine zuverlässigen Annahmen gibt. Zu solchen Ergebnissen etwa kam eine zweitägige Konferenz des eigens für Sicherheitsfragen gegründeten „Instituts für Reaktorsicherheit“(IRS) in Köln, Oktober 1974, für die das Tagungsprotokoll die stattliche Zahl von 500 Teilnehmern ausweist. Es gebe, so das veröffentlichte schriftliche Resumé der Tagung, bisher kein tragbares Risikokonzept zu Folgen und Vorkehrungen gegen Erdbeben und Flugzeugabstürze. Zitieren wir:

„Das Wort „Risikokonzept“ beinhaltet die Vorstellung, dass man, ausgehend von einem vorgegebenen und allgemein akzeptierten Grenzwert für zumutbare Risiken, Sicherheitsanforderungen und damit verbundenen Mindestzuverlässigkeiten, maximale Fehlerfrequenzen und Versagenswahrscheinlichkeiten angeben kann, um so die Anlage auf ein minimales, aber zulässiges Risiko auszulegen (das „Restrisiko“- der Vf.). Von der Realisierung dieser Vorstellung sind wir noch weit entfernt. Man ist heutzutage schon recht froh, wenn man … zu Einzelaussagen kommt und einzelne Probleme in eine gewisse Beziehung zueinander setzen kann.“

Einfacher formuliert: Die Sicherheitsanalyse zu Atomkraftwerken stocherte und stochert vorwiegend im Nebel. Diese beunruhigende Einsicht wurde etwa auf der erwähnten Tagung 1974 mit der vielfach wiederholten Überzeugung verharmlost, dass ein Flugzeugabsturz doch extrem unwahrscheinlich sei. Im übrigens wurde damals nur an den Aufprall eines schnellfliegenden Militärmaschine gedacht, nicht an den Absturz eines Großraumflugzeugs . Dieses geschah – unwidersprochen von den anwesenden 500 Experten – in einer Zeit, als in Deutschland mehrere Atomkraftwerke im Nahbereich großer Flughäfen geplant oder bereits gebaut wurden.

Im Jahr 1978 gibt die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ eine Kurzinformation über Schutzmaßnahmen gegen Flugzeugabstürze heraus. Anlass dazu war der Absturz eines Militärflugzeugs in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks Würgassen, im Sommer desselben Jahres. Im Bericht einer Fachzeitschrift wird damals zugestanden, dass alle deutschen Kraftwerke älterer Bauart – nach heutigem Stand 9 Anlagen – nicht gegen den Absturz von Militärmaschinen gesichert sind. Allerdings würden sie ein nicht näher erläutertes „weites Spektrum an Stoßlasten abdecken“. Im internationalen Vergleich stehe die deutsche Bundesrepublik noch „am fortschrittlichsten da“. Im vereinigten Europa ist das keineswegs beruhigend, wenn wir in Rechnung stellen, dass die weltweit höchste Konzentration von Nuklearanlagen sich in Frankreich und Belgien, also in vorherrschend westlicher Windrichtung von Deutschland befindet. Der zitierte Artikel schließt mit dem Hinweis, dass die Folgen von Flugzeugabstürzen in simulierten Versuchen auf einer eigens errichteten Testanlage geprüft werden sollen. Ob diese Tests je gemacht wurden, ist mir nicht bekannt.

Auch die Regelungen zum Reaktorbau stellten das beschriebene Sicherheitsdefizit in Rechnung. So benennen die seit 1981 geltenden Leitlinien für Druckwasserreaktoren als hinzunehmendes Faktum, dass es ein „verbleibendes Risiko eines Flugzeugabsturzes auf das Reaktorgebäude eines Kernkraftwerks (gibt) sowie auf Gebäude, die im Hinblick auf die sichere Nachwärmeabfuhr geschützt werden müssen“. In der Folge werden verschiedene Maßnahmen dargelegt, die in der Erstellung der Anlage zu beachten seien, in der nicht näher ausgewiesenen Hoffnung, dadurch das Risiko einer Nuklearkatastrophe durch Abstürze zu vermindern.

Neue Erkenntnisse waren also nicht zu erwarten, als der Reaktorsicherheitskommission(RSK) im Herbst 2001 die oben zitierte Frage gestellt wurde. Dass die Auslegung gegen Großflugzeuge keine Genehmigungsvoraussetzung ist, war vielleicht nicht der Laienöffentlichkeit, hingegen der Kommission wie dem fragenden Ministerium bekannt. Es ist im übrigen in den Genehmigungsunterlagen aller Kraftwerke nachzulesen. Über die möglichen Schadensszenarien gab es seit 30 Jahren Analysen und Fachseminare, die immer zum Ergebnis hatten, dass genaue Folgen eines komplexen Ereignisses eines Flugzeugabsturzes auf eine hochkomplexe Industrieanlage nicht zuverlässig abschätzbar sind. So wissen wir nicht im voraus, ob die vom Absturz herausgebrochenen Betonteile aus der rund 1 m dicken Außenhülle anschließend die 4 cm dicke innere Stahlhülle des Reaktordruckbehälters durchdringen und dann die Brennstäbe so schwer zu schädigen werden, dass es zur Kernschmelze kommt; ob die im Reaktorhaus umherfliegenden Teile die Kühlmittelleitungen zerstören und dadurch eine Kernschmelze bewirken; ob die Kühlleitungen aufgrund der induzierten Erschütterungen reißen; ob es zu weiter zerstörenden Explosionen kommt; ob die freigesetzten und brennenden Massen an Flugbenzin die innere Einrichtung so weit „durchlöchern“, dass die ungeheuren Mengen an Radioaktivität aus der Kernschmelze ungehindert ins Freie dringen kann.

Szenarien zu den zwangsläufig komplexen Folgen eines Flugzeugabsturzes drohen also leicht im Meer zahlreicher Möglichkeiten zu versinken. Ein genauer Ablauf des Schadenfalls ist nicht bestimmbar. Angesichts dieser nicht reduzierbaren Ungewissheit über die wirklichen Folgen eines Aufpralls wäre es daher rational, als Konsequenz eines Flugzeugabsturzes hypothetisch den schlimmsten denkbaren Fall anzunehmen, also den tatsächlichen Eintritt einer Kernschmelze mit weitgehendem oder vollständigem Austritt des radioaktiven Potentials. An dieser Hypothese der ungünstigsten anzunehmenden Folge sollte sich sinnvoller Weise dann eine Risikovorsorge orientieren. Dieses Prinzip eines „aufgeklärten Katastrophismus“ hat in jüngerer Zeit insbesondere der französische Philosoph Dupuy näher begründet und entwickelt:

„Orientiere dein Handeln an der Annahme, dass die schlimmste befürchtete Folge eines im Detail nicht vorhersagbaren Ereignisses eintreten wird. Dann hast du die relativ größte Chance, eben diese Katastrophe zu vermeiden.“

Die angefragte Stellungnahme der RSK folgt einer solchen rationalen Maxime der Risikovorsorge nicht . Sie konzentriert sich auf den keineswegs überraschenden Hinweis, dass die Folgen eines gezielten Absturzes mit vollem Tankinhalt nicht eindeutig abschätzbar sind. Aus dieser Uneindeutigkeit werden keine Handlungskonsequenzen gezogen sondern lediglich ein Bedarf an weiterer Klärung abgeleitet: „Ohne vertiefende Analysen, die auch die anlagenspezifischen Auslegungen und sonstigen Schutzgrade der jeweiligen Anlagen berücksichtigen, sind verlässliche Aussagen zu Schadenszuständen nicht möglich“ . Dass verlässliche Aussagen überhaupt möglich sind, konnte allerdings mit Gründen bezweifelt werden.

So war das einzig greifbare Ergebnis der RSK-Stellungnahme, weiteren Untersuchungsbedarf einzufordern. Zugleich wurde damit die Formulierung praktische Handlungskonsequenzen verschoben und bis auf weiteres vermieden. Der Anspruch an weitere Analysen, ohne Erwartungshorizont einer je erreichbaren Eindeutigkeit, entlastet von der sonst unvermeidlichen Debatte um praktische Risikovorsorge.

Ich illustriere das näher an der eben zitierten RSK-Stellungnahme von 11/2001 und ihrem Folgeauftrag im darauf folgenden Jahr:

Die angemessene Antwort auf die Frage, ob die deutschen Atommeiler gegen den gezielten Absturz von Großflugzeugen gesichert sind, wäre nach dem bisher Dargelegten eindeutig „nein“. Es könnte auch hinzugefügt werden: „Das ist seit über 20 Jahren ist das bekannt und im übrigen aktenkundig“. Auf den zweiten Teil der Frage nach den Schadensszenarien wäre eine angemessene Antwort gewesen: „vielfältige Ereignisfolgen sind möglich, die von einem vergleichsweise harmlosen Ablauf bis zur vollständigen Nuklearkatastrophe reichen. Der genaue Ereignisablauf kann nicht vorausgesagt werden“. Auch hier ließe sich hinzufügen: „das ist seit über 20 Jahren bekannt“.

Antworten dieser Art erzeugen in einer mit dem Großrisiko lebenden Gesellschaft einen unmissverständlichen Handlungsdruck. Er muss nicht zwangsläufig eine Abschaltung der Hochrisiko-Anlagen zur Konsequenz haben, wie das die Atomkraft-Kritik befürwortet. Er kann prinzipiell auch in die bewusste Entscheidung der Mehrheit in einer Gesellschaft münden, aus dann allerdings darzulegenden Gründen mit diesem enormen Risiko weiter zu leben. Da das Risiko von Nuklearterror und möglichem SuperGAU, wenngleich nicht quantifizierbar, wegen der zu befürchtenden Schadenssummer auf jeden Fall sehr groß ist, müssten dann aber sehr starke und in der Gesellschaft überzeugende Gründe für einen Weiterbetriebs von Nuklearanlagen geltend gemacht werden. In jedem Fall ist eine sofort einsetzende Debatte unabweislich, wie und durch welche Maßnahmen das Risiko zumindest deutlich verringert werden kann. Strategien der einfachen Handlungsverschiebung sind damit auf jeden Fall unvereinbar.

Genau diese Eindeutigkeit vermeidet der kurze Bericht der RSK, den sie der anfragenden Ministerialbehörde am 27.11. 2001 zugestellt und per Internet auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Das „nein“ auf die erste gestellte Frage ist dem Text nur sehr indirekt zu entnehmen. Stattdessen wird positiv erklärt, dass die AKWs neuerer Bauart „gegen die Auswirkungen eines postulierten zufallsbedingten Absturzes einer schnellfliegenden Militärmaschine (Aufprallgeschwindigkeit 774 km/h) geschützt seien. „Aufgrund vorliegender Untersuchungen kann erwartet werden, dass (in diesen Kraftwerken) mindestens die mechanischen Belastungen abtragbar sind, die beim zufallsbedingten Absturz eines Verkehrsflugzeugs mittlerer Größe auftreten, wobei die Aufprallgeschwindigkeit bisher im Bereich von 350 bis 400 km/h unterstellt wurde.“

Diese Antwort ist ein durchsichtiges Ausweichmanöver: Zunächst verschleiert sie den qualitativen Unterschied zwischen dem Absturz eines Düsenjägers und dem gezielten Aufprall einer vollgetankten großen Passagiermaschine vom Typ Boeing 747. Das Gewicht beider Flieger unterscheidet sich um das 20fache, der Tankinhalt an brennbarem Kerosin um das 36fache. Die kinetische Energie des Aufpralls der Boeing ist, bei gleicher Geschwindigkeit, also 20x höher. Der dann unvermeidliche Brand des Treibstoffs würde, folgen wir den Realerfahrungen der Twin Tower, mehrere Stunden dauern und bei den zu erwartenden Temperaturen von über 1000 Grad Stahlkonstruktionen zum Schmelzen bringen. Den Schutz gegen einen Düsenjäger mit dem Schutz gegen eine vollgetankte Boeing 747 oder gar gegen den Airbus A 380 mit seinem 28fachen Gewicht überhaupt vergleichen zu wollen, gleicht ingenieurtechnisch dem Unterfangen, die Folgen des Aufpralls eines schnellfahrenden PKWs dadurch zu studieren, dass man ein Fahrrad gegen dieselbe Test-Mauer prallen lässt.

Außerdem war nach den Folgen eines gezielten Absturzes im schlimmstenfalls rechten Winkel auf das Reaktorgebäude gefragt worden, wobei ein „Großflugzeug mit vollem Tankinhalt“ und natürlich von maximaler Geschwindigkeit unterstellt wurde. Die dann zwangsläufig negative Antwort wurde also durch Ausweichen vermieden. Der Bericht gibt lediglich an anderer Stelle zu, dass es für Szenarien der in diesem Fall möglichen Folgen bisher keine Untersuchungen gibt.

Immerhin macht der Text das vorsichtige Zugeständnis, dass Kraftwerke älterer Bauart nicht einmal nicht gegen den Absturz schnellfliegender Militärmaschinen geschützt sind. Es fällt im übrigen auf, dass der Angriff mit Raketen, der ebenso die Reaktorhülle neuerer Kraftwerke zerstören kann, weder hier noch in den Sicherheitsleitlinien zum Reaktorbau betrachtet wird. Dabei drängt sich geradezu auf, dass ein Terroranschlag diese technisch wie logistisch leichtere Option wählen könnte, statt aufwendig ein Großflugzeug kapern zu wollen, um mit sicherer Selbstmordfolge auf ein AKW zu stürzen

Der Bericht trifft daher die bereits erwähnte Schlussfolgerung, dass „vertiefende Analysen“ erforderlich seien. Für „bauliche und technische Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzniveaus der Kernkraftwerke“ wird weiterer Untersuchungsbedarf formuliert. Man möge dazu „die zu erhaltenden Schutzfunktionen, den Schutzgrad für den Funktionserhalt, Schwachstellen hinsichtlich des Erhalts der vitalen Funktionen sowie Szenarien und Lastannahmen“ ermitteln. Das ist ein umfassendes und die Tätigkeit von technischen Experten vermutlich für Jahre ausfüllendes Arbeitsprogramm. Transponiert in die Ebene praktischen Handelns kann man ihm die zumindest latente Funktion unterstellen, Aktivitäten zur wirksamen Risikoverminderung in der Nuklearwirtschaft fürs erste zu verschieben.

Der angesprochene Untersuchungsauftrag wurde an die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ vergeben, eine seit 1976 bestehende Einrichtung mit über 300 angestellten technisch-wissenschaftlichen Mitarbeitern; die Einrichtung wird gemeinsam von Bundesregierung, Technischen Überwachungsvereinen und einigen Bundesländern getragen. Aufgabe der Studie war, die Folgen des mechanischen Aufpralls wie der durch den Kerosinbrand erzeugten Hitze nicht nur generell sondern für die einzelnen Kraftwerkstypen darzustellen. „Ereignisabläufe (der Katastrophe) und (Ausmaß der) Verwundbarkeit der Anlagen“ sollten analysiert werden. Gedacht war dabei nicht an empirisch-experimentelle Feldstudien, sondern an die Auswertung und Interpolation vorhandenen Wissens.

Die Studie, die mehrere hundert Seiten umfasst, wurde zu Jahresende 2002 fertiggestellt und der Bundesbehörde übergeben. Sie wurde zum „top-secret“ erklärt und es gelang trotz vorübergehender medialer Aufmerksamkeit, sie über mehrere Jahre geheim zu halten. Begründet wurde das mit dem Argument, man wolle keine Hinweise und Informationen preisgeben, die für potentielle Angreifer nützlich sein könnten.

Die Bedeutung, die damit der Studie zugesprochen wurde, stand allerdings im umgekehrten Verhältnis zu ihrer praktischen Nutzung durch die wenigen eingeweihten Akteure. Aufgrund späterer Indiskretionen wissen wir, dass sie die damals 19 in Deutschland betriebenen AKWs in 5 Kategorien aufgliederte. Das gliedernde Kriterium war erstens der generelle Typus ( Druck- oder Siedewasser-Reaktor), zweitens die Art der (Nicht-)Berücksichtigung von Flugzeugabstürzen bestimmten Typs in Baugenehmigung und Bauweise. Also:

Die angefragte Abschätzung des Risikos wurde dann für jeweils einen Reaktor der fünf Typen als „Referenzanlage“ versucht . Dabei wurde unterstellt, dass sich die Bauweise und folglich sich stellende Probleme von den übrigen Reaktoren desselben Kategorie nur geringfügig unterscheiden.

Das Ergebnis war in keinem Punkt unerwartet und für Kenner der Szene vorhersehbar. Kein einziges Kraftwerk ist vor der großen Nuklearkatastrophe gefeit, wenn ein Großflugzeug mit vollem Tank gezielt aufprallt. Dabei muss die Verwundbarkeit der Meiler aufgrund ihrer verschiedenen Bauweise unterschiedlich beurteilt werden. So versteht sich, dass ein Kraftwerk, das nicht einmal vor Militärfliegern gesichert ist, beim rechtwinkligen Aufprall einer Boeing 747 praktisch keine Chance hat, nicht zerstört zu werden. Dagegen überrascht die gegebene Einschätzung, dass die Reaktorwand der sieben zuletzt in Deutschland errichteten Kernkraftwerke selbst einem Großflugzeug standhalten könne. Gleichwohl wird zugestanden, dass die Erschütterungen auch hier zum Riss der Kühlleitungen und damit zur Kernschmelze führen können.

Eine zweckrationale Reaktion auf das skizzierte Ergebnis des Gutachtens wäre gewesen, Konsequenzen für zumindest jene Kraftwerke zu ziehen oder zur Diskussion zu stellen, die offenkundig nicht gegen eine Kernschmelze bei gleichzeitiger Zerstörung von Außen- und Reaktorhülle mit dann folgender radioaktiver Freisetzung, also gegen einen SuperGAU, geschützt sind. Das betrifft 10 der 17 gegenwärtig in Deutschland betriebenen Reaktoren. Auch für die sieben besser gesicherten Anlagen sind Zweifel angebracht, ob sie der ungeheuren kinetischen Energie und dem Grossbrand des demnächst in Serienproduktion gehenden europäischen Airbus A 380 von 560 Tonnen Gewicht und mit 310.000 Liter Tankinhalt so weit standhalten, dass ihre Funktionsfähigkeit bezüglich Kühlung, Strahlenschutz und Materialdichte n i c h t zusammenbräche. Das Gutachten lässt diese Frage offen.

Die Reaktion der Ministerialbehörde ließ in unserem Fall wieder einen Handlungsaufschub zu. Sie bezog sich dazu auf den Hinweis der Gutachter an, dass ihre Analyse „im Einzelfall erhebliche Unsicherheiten“ aufweise. So sei nicht klar, ob nicht bereits vom Aufprall verursachte Schwingungen im Material dazu führen können, das wesentliche Funktionsbestandteile des Kraftwerks versagen. Auch sei vorab zu klären, welche Folgen ein über mehrere Stunden andauernder Kerosinbrand im Werk hätte. „Diese Unsicherheiten können nur durch eine anlagenspezifische Analyse ausgeräumt werden“.

Diese für sich genommen trivialen Hinweise nahm die Ministerialbehörde zum Anlass, eine Fortsetzung der Untersuchungsaufträge einzuleiten. Es sollten nun nicht mehr nur die Reaktortypen sondern auch die Bauweise jedes einzelnen Reaktors hinsichtlich der erfragten Unfallszenarien beurteilt werden. Für einer solche Analyse fehlte der Bundesbehörde die personelle Kapazität. Auch machte sie geltend, dass detaillierte Unterlagen für die einzelnen Kraftwerke bei den Atomaufsichtsbehörden der jeweils zuständigen Bundesländer lagern. Den Fachbehörden der Bundesländer wurde daher der Auftrag erteilt, Fallstudien über Risiken und Schadensszenarien für die von ihnen beaufsichtigten Atomkraftwerken zu erstellen.

Praktische Folge im Spiel des wechselseitigen Handlungsaufschubs war, dass der Kreis der beteiligten Akteure um die Atomaufsicht und die Regierungen von fünf Bundesländern erweitert wurde. Denn die zuständigen Behörden dieser fünf Länder – Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – blockierten nun ihrerseits und erfolgreich den erteilten Handlungsauftrag, und zwar mit der Begründung, dass die an sie gestellten Erwartungen zu unpräzise seien. Die Bundesbehörde wiederum machte geltend, dass nach ihrer Auffassung der Auftrag hinreichend klar und somit vollziehbar sei.

Das Schwarze-Peter-Spiel zog sich mindestens drei Jahre lang hin. Bis Ende 2005 – dem zeitlichen Endpunkt meiner Fallstudie – war die Kontroverse zwischen Bundes- und Landesbehörden nicht geklärt, mit dem Ergebnis, dass keine der erfragten detaillierten Risikostudien begonnen, geschweige denn fertig gestellt war. Dafür war die praktische Konsequenz, ob intendiert oder nicht, offenkundig: Maßnahmen der Risikovorsorge an den Atomanlagen mussten nicht getroffen werden. Die ständig sich neu stimulierenden Selbstbeschäftigung von Technikern und Verwaltern als greifbares „Ergebnis“: vorerst nichts zu tun.

Die Studie der GRS war streng geheim und das Umweltministerium verweigerte selbst die Verbreitung ihrer allgemeinen Resultate. Sie wurden erst Beginn 2004 durch Indiskretion bekannt. Eine 12seitige Zusammenfassung, die zum streng internen Gebrauch in den Behörden verfasst war , geriet in die Hände eines Abgeordneten des damaligen österreichischen Bundesparlaments, Peter Pilz. Österreich wäre als Nachbarland Bayerns von einer Nuklearkatastrophe in den dortigen Atommeiler direkt betroffen. Der Abgeordnete verteilte gemeinsam mit der bayerischen Landtags-Abgeordneten Ruth Paulig das Papier auf dem Marienplatz in München, kurz danach veröffentlichte der Umweltverband BUND das Resumé auf seiner Internet-Seite. Erst dadurch wurde die Geheimhaltung der Ergebnisse durchbrochen.

5. Risiko-Ausblendung

Man kann das Verhaltensmuster im Subsystem „Fachwelt und Verwaltung“ durchaus so erklären, dass es intendiertes Ziel war, Nichtstun vorerst zu gewährleisten. Mit der in Verschwörungstheorien beliebten Unterstellung direkter Absichten sollten wir jedoch vorsichtig sein, zumal im betrachteten Fall mindestens 2 Ministerien sowie die Fachorganisationen RSK und GRS eine deutlich atomkritisch eingestellte politische Spitze hatten. Das Bundesministerium war Grün regiert, der verantwortliche Staatssekretär in Schleswig-Holstein war ein Grüner, Geschäftsführer bzw. Vorsitzender von RSK wie GRS waren ehemalige Mitarbeiter des Öko-Instituts, das sich durch kritische Analysen zur Atomwirtschaft einen Namen gemacht hat. Erklärungen sollten daher der Frage nachgehen, warum Menschen wie Institutionen in modernen Gesellschaften auf mögliche Großrisiken wie Nuklearterror so hilflos und handlungsverweigernd reagieren.

An anderer Stelle habe ich die Analyse des behördlichen Umgangs um eine zu Reaktionen in Politik und Medien ergänzt . Es zeigte sich, dass die Wahrnehmung der Möglichkeit von Nuklearterror durch Sprunghaftigkeit und die Neigung zur Verdrängung gekennzeichnet ist. Kurzfristige Phasen deutlicher Beunruhigung über die nicht zu leugnende Möglichkeit von Nuklearterror wechseln mit langen Zeiträumen ab, in denen vom in Rede stehenden Risiko keine Notiz genommen wird. Sofern das Risiko in den Blick gerät, wird es in aller Regel nur verkürzt zur Kenntnis genommen. So beschränkt(e) sich die öffentliche Diskussion in Deutschland auf das Szenario „gezielter Flugzeugabsturz“ und blendet(e) andere Formen zerstörerischer Angriffe aus. Zugleich bleibt die Risikowahrnehmung auf die Grenzen der Nationalgesellschaft eingeengt, die zumindest gleichwertige Gefahr einer Nuklearkatastrophe in benachbarten Ländern bleibt weitgehend unbeachtet. Von der Sache her ist das im hier erörterten Fallbeispiel „Deutschland“ nicht nachvollziehbar, da das Land aufgrund der vorherrschenden Westwinde von Nuklearkatastrophen in z.B. Frankreich, Belgien, England und den Niederlanden zentral getroffen würde

Das weiteren fällt auf, dass konsequenten Überlegungen nicht nachgegangen wird, wie das Risiko von Nuklearkatastrophen durch Terroranschläge gezielt zumindest verringert werden könne. Ein Mangel an Pragmatismus kennzeichnet den Umgang mit möglichem Nuklearterror, wie offenbar den Umgang mit technischen Großrisiken generell.

Problemverdrängung, Handlungsvermeidung und Handlungsaufschub sind typische Muster im Umgang mit dem erörterten Risiko. Es liegt nahe, im enormen Umfangs des Risikos einen Grund dafür zu sehen, dass der Wahrnehmung des Problems und einer pragmatischen Suche nach Lösungsschritten ausgewichen wird. Scheinbar paradox sind moderne Gesellschaften so „programmiert“, dass sie zur Behebung kleinerer und mittlerer Risiken schneller ein Handeln der Abhilfe organisieren als gegenüber Großrisiken. So ergriffen im hier diskutierten Zeitraum die Mitgliedsstaaten der EU einschneidende Sofortmaßnahmen gegen eine Ausbreitung der Vogelgrippe, obwohl diese nur vereinzelt bei wildlebenden Wasservögeln auftrat. Ähnlich umfassend waren im Jahr 2001 die europäischen Reaktionen auf die Rinderkrankheit BSE. Besonders im zweiten angesprochenen Fall ist der Umfang des Risikos verglichen zu dem einer nuklearen Katastrophe verschwindend gering.

Zum besseren Erklärung dieser Paradoxie kann die oben vorgenommene Differenzierung des Risikobegriffs weiterhelfen. Es wurde dargelegt, dass Nuklearkatastrophen mit dem gebräuchlichen handlungstheoretischen Risikobegriff nur unzureichend zu erfassen sind. Das hier in Rede stehende nukleare Risiko ist weitaus umfassender sowie in seinen genauen Auswirkungen schwerer bestimmbar. Nukleare Katastrophen können soziale und ökologische Auswirkungen haben, unter denen ganze Gesellschaften regelrecht zusammenbrechen. Zu möglichen sozialen Folgen stelle man sich nur eine Zwangsinternierung größer Bevölkerungsgruppen in einer verstrahlten Zone vor, mit dem Ziel, weitere Kontaminierungen durch die bereits stark belasteten Menschen in Grenzen zu halten. Oder die Zwangsverpflichtung Zehntausender, die – wie in Tschernobyl 1986 – unter hoher Strahlendosis einen stark strahlenden Reaktor einbetonieren sollen. Oder nur die Zwangsevakuierung und Massenflucht von Millionen. Schließlich kann die entstehende Massenpanik infolge einer Nuklearkatastrophe deren negatíve Auswirkungen steigern und damit dazu führen, dass weitere eingespielte gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge vorerst außer Kraft gesetzt sind.

Aber das sind nur mögliche, nicht auszuschließende Folgen eines in seiner Gesamtheit schwer bestimmbaren Katastrophenablaufs. Offenbar trägt gerade die Verquickung von zu befürchtendem Umfang und zugleich Unbestimmbarkeit im Ablauf von Großrisiken wie der eines SuperGAUs dazu bei, dass der mögliche Eintritt eines solchen Ereignisses im gesellschaftlichen Alltag verdrängt, als de facto irreal beiseite geschoben wird. Handlungslähmend wirkt auch, dass erforderliche Aktivitäten zur Risikoverminderung sehr umfangreich und aufwendig sind und das System eingespielter Gewohnheiten deutlich stören. Wenn sich eine Gesellschaft daran gewöhnt hat, wesentliche Teile ihres Strombedarfs nuklear zu decken, sind die Kräfte der Beharrung und der Bestandssicherung in den Kreisen, die durch Arbeit, Rendite, Management, Verwaltung oder Wissenschaft an der Atomkraftnutzung profitieren, schwer in eine andere Richtung zu lenken. Die erworbene Routine entfaltet eine Eigenstarre der Trägheit und der Kontinuität.

An der Beschäftigung moderner Gesellschaften mit Großrisiken wie dem Nuklearterror fällt besonders das Muster der Verdrängung auf. Um vorschnelle Psychologisierungen, die auf individuelle Dispositionen rekurrieren, zu vermeiden, sollten wir besser von „selektiver Unaufmerksamkeit“ sprechen . Jede Wahrnehmung von Ereignissen und von komplexen Problemkonstellationen beruht auf einem Akt der Selektion, der bestimmte Aspekte ins Licht rückt und andere verschattet. Komplementär dazu kann auch Nichtbeachtung, Unaufmerksamkeit als selektiver Akt verstanden werden. Gesellschaftliche Öffentlichkeit ist nicht nur durch die Themen zu charakterisieren, die sie ins Blickfeld rückt, sondern auch durch diejenigen, die sie notorisch und mit nur kurzzeitigen Unterbrechungen ausblendet. Der Umgang mit Großrisiken wie Nuklearkatastrophen zählt da zur zweiten Kategorie. Dem widerspricht nicht, dass ihr möglicher Eintritt hin und wieder starke öffentliche Resonanz findet – dann eben nur kurzfristig, stückweise und ohne den pragmatischen Impuls, das Risiko unmittelbar zu verringern. Die moderne Gesellschaft lebt mit dem nicht zu bestreitenden Risiko des Nuklearterrors, indem sie es in aller Regel nicht zur Kenntnis nimmt und verdrängt.

Eine mögliche sozialpsychologische Erklärung zu diesem ungewollt die Selbstgefährdung steigernden Verhalten gegenüber modernen Großrisiken gibt Hans-Peter Dreitzel : Der enorme Umfang der zu befürchtenden Katastrophe lähmt den ansonsten im Alltagshandeln gegenüber kleineren Bedrohungen wirksamen Impuls der Abhilfe. Wie eine Kröte, die vor einem heranbrausenden, für sie gigantischen Auto nicht flüchtet, sondern stille hält – und dadurch das Risiko steigert. Die Stärke der vorgestellten Bedrohung bewirkt, dass eben nicht vorbeugend gehandelt wird. Angesichts der bleibenden Bedrohung löst gerade die Handlungslähmung Angst aus oder verstärkt Angst. Das wiederum belebt als Abwehrmechanismen Handlungsroutinen, für welche die jeweiligen Personen besonders disponiert sind. Depressiv Veranlagte reagieren mit verstärkter Depression, Arbeitssüchtige werden noch arbeitswütiger, Wissenschaftler verkomplizieren noch mehr ihre Analysen und Verwaltungsmenschen steigern weiter das Hantieren mit formalen Ablaufprozeduren und Instanzenzügen.

6. Risiko-Verdrängung plus

Die Diagnose der Risiko-Verdrängung lässt sich zuspitzen: Streng rational ist nicht nachvollziehbar, dass sich die öffentliche Beschäftigung mit der Gefahr von Nuklearterror, soweit sie überhaupt stattfindet, auf das vorgestellte Ereignis gezielter Flugzeugabstürze beschränkt. Sie trifft damit nur eine der wunden Stellen von Atomanlagen, wobei diese Art von Angriff sehr schwierig durchzuführen ist und in jedem Fall den Willen der Akteure zum Selbstmord voraussetzt. Weitgehend unbeachtet blieb etwa der einfachere Weg, Atommeiler mit handgestützten Raketen anzugreifen oder mit Sprengstoff in den inneren Reaktorbereich einzudringen. Für beides habe ich oben zwei symbolische Aktionsbeispiele genannt, die bezeichnenderweise in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Ebenso kann eine Kernschmelze durch zielgerichtete Zerstörung der Kühlmittelzufuhren zum Reaktor oder schlicht durch Einschleusung von Agenten in die Leitwarte eines Kraftwerks eingeleitet werden .

Eine verengte Sicht auf das Großrisiko zeigt auch die mangelnde Beachtung von Aktionen, die eine massive und weiträumig wirkende radioaktive Verseuchung bewirken können. Angriffe können in dieser Absicht auf die Abklingbecken für radioaktive Brennelemente zielen, die weit weniger geschützt sind, die aber ein weit höheres Strahlungspotential vereinigen als der aktive Reaktorkern. Diese Möglichkeit hat ein den Expertenteam aus den USA für 68 Reaktoren in 31 Ländern untersucht und seine Ergebnisse über die National Academy of Science veröffentlicht . Sie kommen zu folgender Einschätzung:

The group of nuclear experts said neither the government nor the nuclear industry “adequately understands the vulnerabilities and consequences of such an event.“ They recommended undertaking a plant-by-plant examination of fuel storage security as soon as possible .

Vielleicht hat die Studie in den USA zu Debatten und sogar zu praktischen Schritten geführt. Im nationalen Rahmen, auf den sich diese Untersuchung beschränkt, war das nicht der Fall, obwohl diese Studie den zuständigen Fachbehörden und Atomunternehmen in Deutschland und in der EU bekannt sein muss. Auch ihr Handlungsvorschlag, Abklingbecken unterirdisch zu verlegen, ist hier nicht aufgegriffen worden.

Ein Beleg für selektive Unaufmerksamkeit in Deutschland ist weiterhin, dass die Verwaltung für die Errichtung von 14 damals vorgesehenen Zwischenlagern für radioaktive Brennelemente kaum Konsequenzen zog und dass solche Konsequenzen in der Öffentlichkeit nur vereinzelt eingefordert wurden. Zeitgleich mit 11-09 2001 liefen die Antrags- und Genehmigungsverfahren für diese Zwischenlager, in denen hochradioaktives Material in sog. Castor-Behältern über mehrere Jahrzehnte deponiert werden soll. Lediglich für die Lager, die in Norddeutschland errichtet wurden, konnte eine Verstärkung der Außenwandstärke (von 0,60 m auf 1,50m Dicke) durchgesetzt werden, während die AKW-Betreiber das in Süddeutschland erfolgreich verhinderten. Die naheliegende Konsequenz, solche Zwischenlager zur besseren Gefahrenabwehr wenigstens unterirdisch anzulegen, wurde nicht gezogen und sie wurde auch kaum eingefordert.

Schließlich ist aufschlussreich, dass das größte radioaktive Gefährdungspotential in Europa – die Wiederaufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield – nur kurzfristig Aufmerksamkeit fand. In diesen Fabriken lagern ungeheure Mengen an hoch-radioaktivem Material . Ihre Einrichtungen sind bei entsprechenden katastrophalen Folgen weit leichter zu zerstören als Atommeiler mit ihren Betonummantelungen. Die französische Regierung hat nach September 2001 Flugabwehrraketen bei La Hague stationiert, diese aber spätestens 2003 wieder abgezogen. In der Öffentlichkeit wurde diese durchaus sinnvolle Maßnahme hauptsächlich unter dem kritischen Blickwinkel diskutiert, dass sie zur weiteren Militarisierung der Atomindustrie führe .

Dass bis zur Niederschrift dieser Analyse kein ernsthafter Terrorangriff auf eine Atomanlage mit hochradioaktivem Inventar stattgefunden hat, ist ohne Zweifel beruhigend. Doch auch in dieser Beruhigung zeigt sich selektive Unaufmerksamkeit. Gesellschaftliche Zukunftserwartungen können ebenso wenig wie wissenschaftliche Prognosen auf Induktionsschlüsse setzen. Dass ein prinzipiell zu befürchtendes Ereignis bisher nicht eingetreten ist, sagt nichts für die kommenden Jahre und Jahrzehnte.

Zudem gibt es wenig Grund zur Annahme, dass ortsunabhängig und weltweit operierende terroristische Aktivitäten in Zukunft eher weniger als mehr zu erwarten seien. Terrorismus haben wir politikwissenschaftlich als eine Form der asymmetrische Kriegführung definiert, die unterlegene militärische und logistische Kapazitäten durch Klandestinität und Überraschungsschläge auszugleichen sucht. Derart operierende Organisationen können sich besonders gut und erfolgreich im Milieu schwacher und zerfallender Staaten verankern. In den vergangenen Jahren hat das Phänomen des Staatszerfalls deutlich zugenommen.

Gesellschaftliche Konflikte, die solche Verbände für bewaffnete Auseinandersetzungen nutzen können, finden sich gegenwärtig allemal in der Welt. Dafür, dass dieses auch in Zukunft eher mehr als weniger zu erwarten ist, sprechen die weiter anhaltende massive Verelendung und Verarmung in vielen Weltregionen und vor allem die Asymmetrie in der Entwicklung von Klimaveränderungen mit ihren bekannten Auswirkungen. Verursacher dieser Entwicklung sind historisch ausschließlich und für absehbare Zeit überwiegend die lange industrialisierten Regionen der Welt, also Staaten, auf die sich die zivile Atomkraftnutzung weitgehend beschränkt. Hauptbetroffene des Klimawandels sind hingegen vor allem die Staaten und Regionen, die zu ihm beigetragen haben und weiterhin beitragen. Solange es in den verursachenden Staaten keine ernsthaften und angesichts der Problemdimension ausreichenden Aktivitäten zu weltweiter Klimagerechtigkeit gibt, ist es blauäugig, für die Zukunft auf eine konfliktärmere Welt zu setzen . Solange es zivile Atomkraftnutzung gibt, wird uns das Damoklesschwert möglichen Nuklearterrors begleiten. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

Hartwig Berger, Berlin, ist Philosoph und Sozialwissenschaftler. Von 1989-2001 Mitglied im Abgeordnetenhaus Berlin. In den letzten Jahren Veröffentlichungen vor allem zur Umweltsoziologie, zur Energiepolitik und zur Ethik der Klimagerechtigkeit.

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