Abgehängt in Europa? Mit Klimaschutz gegen Jugendarbeitslosigkeit

Dr. Hartwig Berger (Berlin)

 

Zusammenfassung

Ein sehr hoher Prozentsatz junger Europäer*innen hat seit Jahren keine, oder nur sporadisch die Möglichkeit, in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten, eine Berufsausbildung zu erhalten oder doch angemessen von der Hände Arbeit leben zu können.  Der folgende Beitrag setzt sich mit dem andauernden Skandal der Jugendarbeitslosigkeit in vier Schritten auseinander.

Zum ersten wird  der Zustand der Massenarbeitslosigkeit am Beispiel einer südspanischen Kleinstadt und ihrer Region dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die  Lage auf dem Arbeitsmarkt die  bestehenden Arbeitsverhältnisse „kontaminiert“. Krasse Ausbeutung, Lohnbetrug oder erzwungene Schwarzarbeit nehmen stark zu und werden zu einem  Dauerzustand..

Zum zweiten wird die bisherige Wirkung der europäischen Jugendgarantie beleuchtet. Die gewährten Finanzspritzen führen vorübergehend und begrenzt zu Erfolgen, jedoch sind diese umso geringer, je stärker abgehängt die Jugend im jeweiligen Zielgebiet  ist. Vor allem aber mangelt es an dauerhafter Wirkung. Die Maßnahmen zur Umsetzung der Jugendgarantie scheitern auf mittlere Sicht, weil unterlassen wurde, gleichzeitig neue Möglichkeiten und Perspektiven einer Beschäftigung junger Menschen zu erschließen. 

Daran anschließend wird zum dritten ein umfassendes  Programm vorgeschlagen, über das junge Menschen gezielt Ausbildung und Arbeit in Bereichen erhalten, die für eine nachhaltig und umweltgerecht gestaltete Zukunft (nicht nur) unseres Kontinents zentral sind.

Um das zu konkretisieren, werden im vierten Schritt ein durchgeführtes Projekt der Ausbildung junger Menschen zu kommunalen Energieberater*innen vorgestellt sowie ein zweites geplantes Vorhaben einer umfassenden Energieausbildung.

 

                                                                                                                 Seite

 

  1. „Marienthal“ nach 80 Jahren                                                        1                                                 
  2. Abgehängte Jugend                                                                      7
  3. Die europäische Jugendgarantie                                                12
  4. Die Jugendgarantie in Spanien                                                  14
  5. Zukunft mit „Energie“ gestalten                                                  17       
  6. Energieberatung als Selbsthilfe                                                  19
  7. Mehr Arbeit mit weniger Energie – ein Ausbildungsprojekt        20

 

  1. „Marienthal“ nach 80 Jahren

    [1]

 

Wie lebt eine Gesellschaft mit dem massenhaften Verlust von Arbeit und Beruf, wie wirkt sich das für junge Menschen aus? Um das zu veranschaulichen, haben wir im Winter 2013/14  einen Film über einen Ort  in der Provinz Cádiz gedreht[2].  Paterna de Rivera ist eine Kleinstadt mit damals 5.662 Einwohnern, deren Bewohner noch vor wenigen Jahrzehnten überwiegend von der Landwirtschaft lebten, zumeist als Tagelöhner mit  befristeten Anstellungen auf Ländereien des dort dominierenden Großgrundbesitzes. Mit der Arbeitsemigration nach Westeuropa seit 1960 und dem Bau- und Wirtschaftsboom Spaniens seit den 70er Jahren, schließlich seit dem EU-Beitritt 1986 verbesserte sich die Lage der Bewohner, die allerdings weiterhin von Lohnarbeit unter zumeist prekären Umständen abhingen[3].

 

Die 2007/2008 einsetzende Wirtschaftskrise traf die große Mehrheit der hier lebenden Menschen mit voller Wucht. Zu  Jahresbeginn 2013 waren in Spanien 27% als arbeitslos registriert, in Andalusien waren es zu der Zeit 35% und in der Provinz Cádiz 40,6%. In Paterna waren es zu Beginn des Jahres 2014 mit 1.756 Menschen  mehr als 50% der für den Arbeitsmarkt disponiblen Bevölkerung4. Ein regionales Fernsehteam drehte damals eine kurze Sendung über diesen Ort, weil er im traurigen Ruf stand, landesweit mit wenigen weiteren Orten die prozentual höchste Arbeitslosigkeit aufzuweisen. Nicht mitgerechnet in den örtlichen Statistiken war der hohe Anteil von Frühverrentungen, überwiegend Männer, die als Pendler in Betrieben der Metallbranche wie dem Schiffbau oder der Autozulieferer-Branche  tätig waren. Auf Schließungen und massiven Personalabbau hatten die Gewerkschaften und die Belegschaft durch Besetzungen und Blockaden mit dazu beigetragen, dass zumindest viele Frühverrentungen oder langfristige zu Umschulungen deklarierte Weiterbildung stattfanden. Möglich wurde das über die sog. „expedientes de regulación de empleo“, abgekürzt ERE, welche die sozialistische Regionalregierung eingeführt hatte und zu großen Anteilen über den ESF, den Europäischen Sozialfonds finanzierte. 

 

Um die ERE rankt sich allerdings ein Skandal massiver Veruntreuung und des nicht zulässigen Einsatzes öffentlicher Gelder, der seit dem Jahr 2011 schrittweise aufgeflogen ist. Die zahllose Fälle von Betrug, Korruption und Veruntreuung in ganz Andalusien beziffert die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift von Mitte 2017  auf 741 Mio €[4],  unter anderem geflossen an  Politiker, Verwaltungsbeamte und Inhaber beauftragter Büros oder Institute, die an Entscheidungen und Umsetzungen  zu den  Maßnahmen der Weiterbildung und Frühverrentung mitgewirkt haben[5]. Die Recherchen und der Prozess wegen dieses Finanzskandals zogen sich über Jahre hin,  verzögert auch, weil es der Regionalregierung 2014 gelang, eine besonders engagierte und effizient arbeitende Untersuchungsrichterin, Frau Alaya, dieser Aufgabe zu entheben. Unter den Angeklagten sind 26 hochrangige Politiker und Verwaltungsbeamte, unter anderem sind darunter mit Manuel Chávez und José Antonio Griñán zwei ehemalige Präsidenten Andalusiens, denen Nachlässigkeit in der Amtsführung vorgeworfen wird. Die Angeklagten sind zum überwiegenden Teil Mitglieder der Sozialistischen Partei Spaniens, der PSOE. Die jetzige  Präsidentin Andalusiens, Susana Díaz, war Kabinettschefin des vorherigen Präsidenten Griñán, der aufgrund des Skandals zurücktreten musste. Ihrer Popularität tat das allerdings  keinen erkennbaren Abbruch. Sie konnte es sich  leisten, 2014 die Koalition der PSOE mit der weiter links stehenden „Vereinigten Linken“, IU aufzukündigen, als diese vor allem wegen des ERE-Skandals  zunehmend auf Distanz ging. Susana Díaz gewann mit der PSOE die vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr 2015 und setzte die Regierung bei Tolerierung durch die weiter rechts stehende „Ciudadanos“ fort, obwohl diese sich  „eigentlich“, zur Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft gegründet hatten. Die IU brach in der Wählergunst ein, wenn auch zugunsten der neu gegründeten, in Andalusien weiter links stehenden „Podemos“.

 

Viele Arbeiter in Paterna sind aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig verrentet. Ihre Erkrankungen sind den vielfach gefährlichen und belastenden Tätigkeiten in den früheren Betrieben geschuldet, wie einem großflächigen Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, den die großen Güter in Andalusien weiter bedenkenlos und selbst unter Einsatz von Flugzeugen praktizieren, sowie dem Hantieren mit hochgiftigen Substanzen und hohen Emissionsbelastungen etwa im Schiffsbau und anderen Industriebetrieben der Region. Der Anteil der durch ihre Arbeit geschädigten Männer liegt in Paterna beunruhigend hoch.  Schließlich fallen als „dem Arbeitsmarkt Verfügbare“ im Ort zahllose Frauen unter den Tisch: sie sind nicht als arbeitslos registriert, weil sie ohnehin weder auf bezahlte  Arbeit noch auf staatliche Hilfsgelder hoffen.

 

Für etwa die Hälfte von den Betroffenen war schon 2013 die Arbeitslosigkeit bereits ein Dauerzustand von zwei Jahren oder mehr, mit der Folge, dass über die Hälfte von ihnen auch den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verloren hatte. In ihrer Erklärung zu den 1. Mai Demonstrationen 2013 legte die „Gewerkschaft der Arbeiterkommissionen“, die CCOO andalusienweit Zahlen vor. Demnach bezogen von 1,32 Mio. als arbeitslos Registrierten:

  • 220.000 reguläres Arbeitslosengeld
  • 400.000 staatliche Unterstützungen anderer Art und
  • 700.000 keinerlei staatliche Unterstützung[6].

In 22% aller Haushalte waren in Andalusien zu dieser Zeit sämtliche Familienmitglieder ohne Arbeit[7]

 

In Paterna, einem klassischen Landarbeiterort, sind noch rund 200 Personen mit der sog. „cartilla agrícola“ in diesem Tätigkeitszweig registriert, wenngleich die landwirtschaftlichen Betriebe nur wenig, und dann kurzfristige Beschäftigung anbieten. Gleichwohl begründet die cartilla agrícola ein wichtiges Anrecht, das in den 90er Jahren die damals regierende PSOE eingeführt hat – einer der Gründe für ihre Wahlerfolge in Spaniens Süden: Eingeschriebene Landarbeiter in den Regionen Andalusien und Extremadura erhalten, sofern sie im Jahresverlauf  35 Tage auf dem Land beschäftigt sind, für den weiteren Jahresverlauf monatlich 426 € an Arbeitslosengeld. In den Regionen Andalusien und Extremadura waren um diese Zeit rund 200.000 Menschen als Gelegenheitsarbeiter auf dem Land registriert, zu 61% Frauen[8].  Da die industrialisierte Landwirtschaft der großen Güter nur noch selten und wenig Saisonarbeit anbietet, erreichen viele Landarbeiter*innen  nicht die erforderlichen 35 Arbeitstage.  Viele Landbesitzer nutzen das aus,  indem sie den Beleg für die frist von 35 Tage Landarbeit nur bei entsprechender Zuzahlung  der Empfänger ausstellen … .

 

Immer mehr Menschen finden bezahlte Arbeit, ohne dass die Arbeitgeber für Sozialversicherung und Rentenansprüche zahlen. Künftige Altersarmut ist mit „untergetauchter“ Arbeit, „trabajo sumergido“, wie man dort sagt, vorprogrammiert. Für trabajo sumergido finden sich in der  unübersichtlichen Struktur der andalusischen Kleinstädte, ebenso in den Volksvierteln der großen Städte, viele Wege und Möglichkeiten. Mit der Massenarbeitslosigkeit hat sie deutlich zugenommen, da viele Arbeitsgeber, insbesondere in den krisengeschüttelten Kleinbetrieben, das zu Angeboten von Niedrig- und Niedrigstlöhnen nutzen. Diese Betroffenen haben nur die Wahl sich darauf einzulassen oder eben ganz leer auszugehen.

 

Einige Beispiele:  Rafaela V[9]. arbeitete 10 Stunden täglich für 300 €  monatlich in einer Bäckerei, Augustin C. half ganztägig für 200 € pro Monat in einem Geschäft für landwirtschaftliche Geräte, bevor er mit Erfolg einen Ausbildungsplatz in Deutschland suchte.  Pedro A. ist seit  Jahren in der Auslieferung einer Bäckerei für 800 € monatlich tätig, ohne Beiträge für Krankenversicherung und Rente. Isabel  R. schneidet  für 3 € Haare,  Miguel J. arbeitete für eine bezahlte Stunde in einem Laden für Informationstechnik, Länge je nach Arbeitsanfall. Einem krassen Betrug war Pepe S. ausgesetzt: Er arbeitete bei eigenen Fahrkosten in einem 80km entfernten Bauprojekt,  bis ihm der Lohn, mit dem er im ersten Monat vertröstet wurde, auch nach dem zweiten Monat verweigert wurde. Eine rechtliche Handhabe hat er nicht.

 

Mit der Krise haben sich  auch die  Bedingungen „legaler“ Arbeit merklich verschlechtert. Sehr viele Betriebe nutzen bedenkenlos aus, dass sie jederzeit Ersatz für einen Arbeiter finden, die oder der mit den vom ihm diktierten Bedingungen nicht einverstanden ist. So war es zumindest 2013 und 2014 eher die Regel, dass die weiblichen Angestellten in den Supermärkten und in vielen kleineren Selbstbedienungsläden zwar zu vollen Arbeitstagen verpflichtet waren, jedoch nur halbtags entlohnt wurden. Betrug und faktischer Lohnraub nach dem geschilderten Muster ist in den Hotels, Restaurants und Freizeitangeboten an Andalusiens Küsten ebenfalls weit verbreitet. Die in Andalusien mitgliederschwachen Gewerkschaften kommen gegen den Missbrauch des Arbeitsrechts nicht an, weil die Betrogenen falsche Arbeitszeiten schriftlich bestätigen müssen und folglich gerichtlich verwertbare Verweise fehlen.

 

Während ich dieses schreibe (27.09. 2017), findet  in Cádiz eine große Protestkundgebung der Gewerkschaft CCOO statt. Sie prangert die  Zustände in der Tourismus-Branche an, die von Regierung und Medien gerne als Leuchtturm der Arbeitsbeschaffung dargestellt wird. Lassen wir die Sprecher auf der Kundgebung zu Wort kommen:

 „97% der Verträge im Tourismussektor sind zeitlich befristet und als Teilzeitarbeit deklariert und die Hälfte der Verträge gelten nicht länger als sieben Tage. Die „Bonanza“ (Hochkonjunktur) der Tourismus-Industrie übersetzt sich für die dort Arbeitenden in mehr Ausbeutung, in Niedriglöhne, in Prekarität, das Fehlen von Kollektivverträgen und  eine Zunahme von Auslagerungen an Vertragsnehmer. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Sektor schuften für einen miserablen Lohn, werden für viele Stunden überhaupt nicht bezahlt, arbeiten ohne freien Tag, ohne Sicherheits- und Gesundheitsvorkehrungen oder sie reinigen Zimmer für 3 € in Hotels, die in Sichtweite des Unternehmens liegen, in dem sie eigentlich angestellt sind”[10].

 

Oder nehmen wir zwei Beispiele aus der Landarbeit: Juan-Manuel, der von Kindesbeinen an Vieh gehütet hat, war für die Rinderherde eines Guts angestellt, das ihm nur die Hälfte des tariflich festgelegten Lohn zahlte, ihn aber verpflichtete, den Empfang der doppelten Summe schriftlich zu bestätigen. Entsprechend höher lagen denn auch seine Versicherungsbeiträge und Steuern.  Ähnliches passiert sehr häufig auf dem Land, wie wir den Recherchen der Gewerkschaft CCOO erntnommen haben: Demnach war 30% der Lohnarbeit nicht deklariert, wurde also ohne Sozial- und Krankenversicherung geleistet. Oft wurde nur die Hälfte des Tariflohns gezahlt  oder es wurde die vereinbarte Unterkunft nicht gestellt[11].  Während der Olivenernte in der Provinz Jaén, die 42% der spanischen Olivenfelder abdeckt, wurden 2013 sogar nur 2,5 Mio Tagelöhne deklariert, während sich die Schätzungen auf 5,7 Mio beliefen.[12] Die rücksichtlosen Ausbeutungsmethoden, für die der andalusische Grogrundbesitz  historisch berüchtigt ist, dauern an, mit dem Unterschied, dass sich der Besitz der großen Güter inzwischen europaweit diversifiziert hat.

 

Pepe S. und Juan-Manuel G., beides  Familienväter mit Kindern, versuchen inzwischen, sich mit selbständiger Arbeit auf dem Land durchzuschlagen. Sie stellen etwa „picón“ her, eine aus Buschwerk gewonnene Holzkohle, mit der in den Landorten vielfach wieder die Wohnstube gewärmt wird. Weil viele Haushalte die immer höheren Rechnungen für Strom- oder Gasheizung[13] nicht mehr zahlen können, nutzen sie die herkömmlichen „braseros“, mit glühender Kohle gefüllte Schüsseln, die unter einen bedeckten Tisch gestellt werden. Das ist preiswerter, allerdings aufgrund der Kohledämpfe auch ungesünder. Oder die Genannten sammeln in zur passenden Saison Spargel, Wildgemüse oder Schnecken, die sie entweder direkt oder an Zwischenhändler zu verkaufen suchen.

 

Andere  halten Ziegen oder Hühner und  nutzen dazu vom Rathaus geduldete  Parzellen auf den cañadas, den breit ausgelegten traditionellen Viehtriften, soweit sich die anliegenden Landbesitzer diese nicht unrechtmäßig angeeignet haben. Sie jagen außergesetzlich, widmen sich der Zucht von Windhunden oder von Rothühnern für den Verkauf oder ziehen Kampfhähne für verbotene und oft mafiös organisierte Wettbewerbe. Junge Frauen bieten Frisierkunst an, die sie erlernt haben, Gymnastikkurse oder sonstige Dienstleistungen, verkaufen Waren auf wöchentlichen Billigmärkten  oder eröffnen in einem familieneigenen Gebäude einen Laden für Computerspiele,  Schreibwaren, Kurzwaren, besondere Textilien oder Süßigkeiten.  Für einen ausreichenden Unterhalt reicht das nicht,  weil immer mehr Menschen  immer weniger für ein zugleich wachsendes Angebot solcher kleinen Dienstleistungen zahlen können.

 

Bei Dauerarbeitslosigkeit haben viele Formen illegalen Handels wie Schmuggel und Drogenhandel Konjunktur. So wird in den ländlichen Gebieten der Provinz Cádiz nach Einschätzung von Ladenbesitzern inzwischen fast so viel Tabak illegal vertrieben  als in den für Rauchwaren staatlich zugelassenen Läden, den „estancos“, verkauft wird. Hochburg für den Tabakschmuggel ist das zur Freihandelszone erklärte Gibraltar, allein von dort wurden im letzten Jahr 5,7 Mio geschmuggelte Zigarettenschachteln konfisziert,[14].  Das markiert einen der Konflikte Spaniens mit Großbritannien, der sich mit den Brexit-Verhandlungen sicher verschärfen wird.

 

Vom Tabakschmuggel leben nachvollziehbar viele Menschen in der Provinz. Bedenklicher hingegen ist der Drogenhandel, der sich insbesondere an den Küsten und in Küstennähe zu einem hochprofessionellen und weit verzweigten Gewerbe mit allen kriminellen Begleiterscheinungen von Korruption bis Mord entwickelt hat. Eine Zeitlang wurden die Drogenpakete nächtens mit Kleinflugzeugen von Marokko gebracht und auf abgelegenen Gehöften entladen. Inzwischen hat sich die Mafia auf die Überfahrt  mit  schnellen Booten verlegt, die jetzt ganz direkt, in La Línea bei Gibraltar oder an der Mündung des Guadalquivir gezielt in der Nähe von Wohngebieten gelandet werden, in denen einkommensarme Familien leben. Hier sind „Angestellte“ behilflich, die Ware auf Geländewagen zu entladen, anrückende Polizei geschickt zu behindern, den schnellen weiteren Abtransport zu erleichtern oder eine „Zwischenlagerung“ zu organisieren: Die  Massenarbeitslosigkeit  wurde zum Nährboden des Drogenhandels, der hier, aus Südamerika, und dann über die die Sahara kommend, seine  zentrale Südwestroute nach Europa hat.

 

Massenarbeitslosigkeit, die Ausbreitung von Lohnbetrug , illegale Ausbreitungspraktiken sowie der immer höhere relative Anteil kurzfristiger, jederzeit kündbarer Arbeitsverhältnissen führen unvermeidlich zu immer mehr Armut. Caritas bezifferte 2013 die Zahl der Menschen in extremer Armut spanienweit auf 3 Mio., die in relativer Armut[15] Lebenden auf 10 Mio. Auf Unterstützung von Caritas waren 2011 1,015 Mio angewiesen, eine Zunahme von 148% gegenüber dem Jahr 2006[16]. Nach dem GNI-Index, der das Ausmaß sozialer Ungleichheit quantitativ zu erfassen sucht, war Spanien 2012 Schlusslicht sämtlicher EU-Staaten[17]. Die Lage hat sich in den folgenden Jahren kaum gebessert. Nach Erhebungen des Nationalen Amts für Statistik lebte zu Jahresbeginn 2017  22,3% der Bevölkerung Spaniens in relativer Armut, 39,5%  konnten sich nicht einmal einen einwöchigen Kurzurlaub leisten und 8,4% sahen sich nicht imstande, die Kosten für Hypotheken der Eigentumswohnungen, Mieten, Gas oder Strom zu zahlen[18]. Die Kinderarmut in Spanien liegt gegenwärtig bei 40%, nach Rumänien und Griechenland ist das der höchst Anteil in der EU[19].

 

In Andalusien liegen die Dinge deutlich schlechter. So erreicht in Paterna die große Mehrheit der Haushalte nicht den Einkommensdurchschnitt von 700 € pro Person und Monat, mit dem in diesem Jahr die Schwelle zur relativen Armut definiert ist. So hängt  denn bis heute das Leben vieler Familien von den „bancos de alimentos“ ab, der kostenlosen Ausgabe von Lebensmitteln. Sie wird in der Regel vom katholischen Verband Caritas organisiert. Lassen wir die Leiterin 2013 in Paterna zu Wort kommen:

 

„Seit Beginn der Krise  sind sehr viel mehr Menschen auf uns angewiesen, dabei helfen wir nur den Bedürftigsten. Im Augenblick brauchen 80-90 Familien dringend unsere Hilfe. Wie helfen mit Grundnahrungsmitteln, Medikamenten, Babynahrung, auch der Zahlung von Strom und Wasser, wenn die Familien das wirklich nicht können. Die Waren werden in den Kaufläden gesammelt, wobei die Menschen das in die bereitgestellten Kartons legen können. Die Solidarität hier im Ort ist sehr groß, vor allem unter den Armen.“

 

Um die Grundversorgung entbrannten 2013 in der Provinz zeitweise heftige Konflikte. Die SAT, die andalusische Arbeitergewerkschaft, organisierte in mehreren großen Supermärkten demonstrative Enteignungsaktionen und verteilte anschließend die Waren unter armen Familien. Die Aktionen gipfelten in einem mehrtägigen Marsch durch die ganze Provinz, an der bis zu 2.000 Personen teilnahmen. Die Proteste führten dazu, dass viele Supermärkte sich gehalten sahen, fortab weit größere Warenmengen an die bancos de alimentos zu liefern[20].

 

 

  1. Abgehängte Jugend

 

Wie stellt sich unter den geschilderten Umständen die Lage der jungen Menschen dar? Die Arbeitslosenrate der unter 25jährigen wurde in Andalusien im Jahr 2013 mit 57% beziffert[21], in der Provinz Cádiz lag die Rate über 60%. Im hier betrachteten Ort wurde sie von Rathaus und Arbeitsamt  auf rund 75% beziffert. Obwohl in Paterna mehr als die Hälfte der Jugendlichen eine mit Zertifikat oder mit Diplom abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen konnte und ein beträchtlicher Teil auch aus Arbeiterfamilien ein Hochschulstudium absolviert hatte, half das wenig bis überhaupt nicht, eine Arbeit zu finden, sei es im erlernten Beruf, sei es an anderer Stelle. Die jungen Menschen waren vielfach seit Jahren arbeitslos und erhielten auch keine Hilfszahlungen. Sie hingen vollständig von Einkünften, Ersparnissen oder Verschuldungen und der Krankenversicherung ihrer Eltern ab, manchmal auch von den Renten der Großeltern. Fast durchweg lebten sie weiterhin in der elterlichen Wohnung. Nur zum Teil und dann nur gelegentlich fanden sie kurzfristige, schlecht bezahlte und „natürlich“ nicht gemeldete Jobs etwa auf dem Land, beim Austragen von Waren, der Bedienung in Restaurants, Kneipen, Geschäften, der Vorbereitung von Volksfesten oder mit Hilfsdiensten an und in Gebäuden. 

 

Lassen wir drei junge Menschen aus dem oben erwähnten Film zu Wort kommen:

 

Sergio (24 Jahre):

„Ich habe nach der Schule eine zweijährige Ausbildung als Forstarbeiter gemacht, bis zum März des letzten Jahres, aber ich habe in diesem Beruf nichts gefunden. Er hat mir überhaupt nicht geholfen. Ich habe nur hin und wieder schlecht bezahlte Aushilfsarbeit gefunden, so in einer Bäckerei und in einem Informatikladen. Ich erhoffe mir eine Änderung, ich muss nach Möglichkeiten Ausschau halten. Aber in diesem Ort ist das noch schwieriger als anderswo, es gibt keine Industrie, nicht mal ein Gewerbegebiet. Wir als junge Menschen müssen hier weggehen, vielleicht in einen Ort in der Nähe, wahrscheinlicher aber ins Ausland. Ich habe inzwischen Freunde, die z.B. nach Holland gegangen sind“

 

Vicente (29 Jahre): 

„Ich habe Betriebswirtschaft fertig studiert und mit einem Studium der Volkswirtschaft angefangen. Mit Bezug auf mein Studium habe ich aber nirgendwo etwas gefunden. Gearbeitet habe ich nur ein paar Mal in einer Bäckerei, in der ich Weihnachtsartikel verpackt habe. Arbeit kann ich nur anderswo suchen, hier gibt es kaum Angebote. Die Lage hier ist höchst kompliziert und schlecht. Viele von uns jungen Leuten sind gut ausgebildet, aber man akzeptiert uns nicht für eine Arbeit, schon gar nicht in unserem erlernten Beruf

 

Mari Sol(27 Jahre): 

„Ich habe 2009 ein Studium als Sonderschullehrerin abgeschlossen und bis 2011, weil ich keine Anstellung gefunden hatte, eine Ausbildung in „Kultur für den Friedens und Entwicklungsarbeit“ begonnen. Ich musste das aber abbrechen, weil ich, da arbeitslos und ohne Ersparnisse die Gebühren nicht zahlen und meinen Eltern das nicht zumuten wollte und konnte. Nach meiner Ausbildung habe ich sporadisch für ein/anderthalb Monate im Unterricht gearbeitet, außerdem mache ich, ehrenamtlich, in einem Zentrum für Behinderte mit. Meine Zukunft sehe ich ziemlich düster, denn wenn du über Jahre studierst, musst du endlich zu arbeiten anfangen, denn arbeitslos, ohne Ersparnisse ist das kein Zustand. Du brauchst  Erfahrungen in der Arbeit, aber die Gelegenheit bekommst Du nicht, Du wirst immer abgewiesen, „du bist noch zu jung“, niemand ringt sich durch, Dir eine Gelegenheit (zum arbeiten) zu geben. Nun, jetzt habe ich meine Eltern, sie helfen mir, soweit sie können, aber ich muss doch endlich auf meinen eigenen Beinen stehen können.“

 

Die Situation der jungen Frauen ist besonders heikel. Ich zitiere aus einem Gespräch mit der für Gleichheit und Bürgerpartizipation zuständigen Stadträtin, Mari-Santos Sevillano Villegas:

 

In einer kleinen Gemeinde wie dieser, ohne irgendwelche Industrie, ist es für die Frauen noch schwieriger, was zu finden, auch, weil die Arbeit in Haus und Familie weiter bei den Frauen liegt, sie müssen  sich daher mehr einspannen, um überhaupt eine Arbeit zu finden. Die Frauen hier sind, wenn sie überhaupt etwas finden, hauptsächlich in „häuslichen“ Tätigkeiten beschäftigt, oder im Hotelgewerbe in den Küstenorten[22].

 

Für die jungen Frauen und Mädchen ist das auch sehr schwierig. Es gibt hier zwei unterschiedliche „Blöcke“. Einmal junge Frauen, die sehr gut (beruflich) vorbereitet sind, die aber die erste Arbeit nicht finden. Sie drehen sich damit im Kreis. Sie haben eine Ausbildung, aber ihnen fehlt noch die nötige Praxis und Erfahrung. Doch  niemand gibt ihnen eine Gelegenheit dazu.

 

Dann haben wir eine andere Gruppe junger Frauen, die ihre Studien abgebrochen haben, die also weder Ausbildung noch Praxis haben. Um die bemühen wir uns, indem wir Kurse in der Erwachsenenbildung anbieten, denn ohne irgendeine Ausbildung finden sie rein gar nichts. Es ist wirklich kompliziert, hier Wege zu finden, wegen der hohen Arbeitslosigkeit, ganz besonders bei der Jugend.

 

Mari Sol, Vicente und Sergio haben Konsequenzen gezogen, ein Angebot in Deutschland  genutzt, dort Arbeit gefunden und teilweise eine Ausbildung abgeschlossen. Die übergroße Mehrheit der jungen Menschen aus den „ländlichen“ Kleinstädten Andalusiens, hier zumeist stärker marginalisiert als in den großen Städten, gelingt die innereuropäische Migration nicht. Die Schwellen für die großstädtische Jugend sind da niedriger, auch sind in ihrem Milieu die Infrastrukturen für eine Jobsuche im Ausland besser.

 

Um einen Eindruck der Schwierigkeiten der jungen Menschen im Ort zu verschaffen, schildere ich die Arbeitssuche zweier Brüder. Sie haben in einer örtlichen Schmiede den Beruf des Schweißers gelernt und fanden zunächst über Vermittlung eines dort tätigen Onkels Arbeit  auf einer Werft. Diese verloren sie jedoch mit der „Krise“ nach kurzer Zeit. Auf staatliche Sozialhilfe hatten sie keinen Anspruch, da sie mangels Mitteln weiter bei ihren Eltern wohnten. Der Ältere, Pedro, fand nach knapp zwei Jahren, durch Vermittlung seiner Verlobten, die in Puerto Real arbeitet, unangemeldete und gering bezahlte Arbeit in einer Schlachterei. So konnten beide dort eine Wohnung beziehen. Der Jüngere, Luis, blieb ohne konkrete Aussichten in der Elternwohnung zurück. Er züchtete auf dem Hausdach Windhunde, um die schnellste Hündin beim Wettbewerb der Hasenrennen einzusetzen und die Welpen, aufgewertet durch Leistungen ihrer Mutter, dann zu verkaufen.[23].

 

Im Frühjahr 2015, nach 4 Jahren, keimt Hoffnung auf. Einer ihrer Onkel hat Kontakte in einer Stadt gefunden, wo ihnen ein „Vermittler“ eine Stelle für Arbeiten auf den Straßen und in Parks anbietet. Allerdings müssten sie ihm unverzüglich je 500 € auf die Hand zahlen, sonst suche er andere Interessierte. Die Arbeit begänne bereits in der folgenden Woche. Pedro und Luis und ihr Onkel gehen auf den deal ein, natürlich ohne die Arbeit zu bekommen. Sie sind nicht die Einzigen, der Betrüger wird nach einiger Zeit festgenommen, aber  das eingezahlte Geld ist weg.

 

Die Lage bessert sich erst Mitte 2016. Wieder über ihr familiäres Netzwerk, finden sie  eine Anstellung als Schweißer und setzen die Läden einer weit verbreiteten Supermarktkette instand.

 

Die beiden Brüder sind noch in einer vergleichsweise günstigen Lage, da sie einen Beruf gelernt haben und ihre Eltern durch eine weit verzweigte Familie über ein Netzwerk von Kontakten verfügen, über die sich leichter etwas finden lässt.  Die Familie, die enge wie die erweiterte, hat im heutigen ländlichen Andalusien eine zentrale Rolle nicht nur der sozialen Interaktion sondern auch der gegenseitigen Hilfe aller Art.  Mit der kritischen Lage hat sich das noch verstärkt.

 

Für junge Menschen ohne Berufsausbildung ist die Situation noch schwieriger. Als ein Beispiel nenne ich die kinderreiche Familie Sánchez, in der fast alle 12 Töchter und Söhne die Schule ohne Abschluss beendet und alle keinen Beruf erlernt haben. Der Vater ist seit Jahrzehnten dauerhaft arbeitslos, erhält aber wegen eines Knieschadens eine kleine Rente. Die inzwischen erwachsenen Kinder haben alle  keine reguläre und bezahlte Arbeit, nur drei ihrer Partner, alles Männer, haben eine Anstellung.  Alle anderen sind entweder dauerhaft beschäftigungslos, oder sie finden hin und wieder befristet Arbeit im Bau, als Erntehelfer auf dem Land , verkaufen gesammelte Schnecken und Wildgemüse, werden für wenige Wochen vom Rathaus in Sonderprogrammen für Dauerarbeitslose angestellt, beziehen vielleicht auch mal Sozialhilfe und schlagen sich mit „contrabando“ durch, wie man in Andalusien, und keineswegs abwertend, alle Arten illegalen Handels nennt, auf den hier Viele nun einmal angewiesen sind.

 

 

Es ist  gelungen,  aus dem geschilderten Ort knapp über 20 junge Menschen  für Ausbildungsplätze in Deutschland,  zumeist Berlin, zu vermitteln. Die Vermittlung erfolgte unbezahlt und ehrenamtlich.  Etwa die Hälfte von ihnen ist über kurz oder lang  zurückgekehrt, teils aufgrund persönlicher oder kultureller Krisen, teils aufgrund  ignoranten Verhaltens der Betriebsleitungen, die sich wenig bis gar nicht um eine bezahlbare Unterkunft kümmerten, ein paar Mal auch, weil sie eine Arbeit im Heimatland meinten zu finden. Die in Deutschland Gebliebenen wiederum haben zum Teil Freunde oder Verwandte nachgezogen

 

Unter den gebotenen Umständen ist der Wunsch und das Interesse, in anderen Ländern der EU Arbeit und Auskommen zu suchen, zweifellos sehr groß. Nach Schätzungen hat  in den letzten Jahren weit über eine Million junger Menschen Spanien verlassen. Naturgemäß ist das aus den stärker marginalisierten Gebieten mit besonders hoher Jugendarbeitslosigkeit schwerer als in den großen Städten. Auch gezielte Anwerbungen von deutschen Betrieben oder vor allem für das von 2013 bis 2017 angebotene staatlich finanzierte Ausbildungsprogramm „the job of my life“ konzentrierten sich auf große Städte wie Madrid, Valencia oder Sevilla. Die regionalen Disparitäten im Land werden so eher weiter vertieft.

 

Über das Programm „the job of my life“, welches das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, damals ab Januar 2013 anbot, erhielten allein im ersten Jahr fast 10.000 junge Südeuropäer*innen, zu mehr als 50% aus Spanien stammend, eine öffentlich finanzierte Ausbildung in Deutschland. Die Anwerbung wurde Anfang 2014 wegen hoher Nachfrage abrupt und  unter verwirrenden Umständen gestoppt und sehr viele Menschen, die bereits einen Ausbildungsplatz in Deutschland gefunden hatten, somit „verladen“. Erst nach Intervention der bündnisgrünen Fraktion im Fachausschuss des Bundestags  wurden weitere Anwerbungen zugelassen, aber auf 2.000  pro Jahr begrenzt. Ab März 2016 wurden dann weitere Anwerbungen gestoppt. 

 

Das Programm litt unter erheblichen Anfangsschwierigkeiten und unter einer hohen Abbruchquote[24]. Einer der Gründe dafür war eine ungenügende Vorbereitung und Begleitung im Spracherwerb sowie die Tatsache, dass sich die meisten Betriebe zu wenig oder überhaupt nicht um elementare integrative Aufgaben, wie etwa die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum  kümmerten und zu wenig Gelegenheit für den vorrangig erforderlichen Spracherwerb gewährten. So brachen ungewöhnlich viele der Angeworbenen ihre Ausbildung vorzeitig ab, suchten sich eine nicht beruflich qualifizierte Arbeit in Deutschland, zu meist geringem Lohn und prekären Bedingungen, oder sie kehrten wieder in ihr Heimatland zurück.

 

Dagegen war Ausbildung als solche, insbesondere wenn von handwerklich-technischer Art, nicht das Problem.  In praktischen Tätigkeiten sind die Jugendlichen gerade aus „ländlichem“ Milieu durch berufliche Vorbildung wie ihr Aufwachsen im  Arbeitermilieu  zumeist gut trainiert und vorbereitet. Sie müssen in Deutschland nicht, wie in der Regel einheimische Auszubildende „von der Pieke auf“ angelernt werden, vielfach mussten sie nur bereits erworbene Fertigkeiten erweitern und fundieren.

 

Letztlich war das  Ausbildungsangebot  der Bundesregierung, auch wenn vielleicht ursprünglich proeuropäisch gedacht, zu sehr vom nationalen Bedarf her konzipiert. Zu deutlich war das Interesse der deutschen Handwerks-, Industrie- und Handelskammern, den immer mehr zunehmenden Mangel an jungen ausgebildeten Fachkräften in Deutschland durch Anwerbung aus anderen Ländern auszugleichen.  Auch wurden aus Südeuropa fast durchweg nicht Menschen ohne Ausbildung angeworben, sondern bereits vorqualifizierte Jugendliche, vielfach auch mit Abitur und einer Hochschulausbildung. De facto hat so der Heimatstaat wichtige Phasen der Ausbildung finanziert, von denen Deutschland  profitiert, wenn es hier gelingt, die jungen Menschen mit ihrer hiesigen Weiterqualifikation dauerhaft in die deutsche Wirtschaft zu integrieren . Auf diese Weise können die innereuropäischen Disparitäten zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regionen in Europa nicht abgebaut werden.

 

Trotz der Unzulänglichkeiten war es ein Fehler, das Programm „Mobi-pro-EU“, wie es in der Amtssprache genannt wurde, zu stoppen, statt es zu einem für die EU insgesamt perspektivenreichen spezifischen Beitrag Deutschlands zur Minderung der Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa zu verändern. Wir sollten in Deutschland Lösungswege für  Missstände in Europa  nicht  im Lichte nationaler Interessen – meist als „win-win“ Strategie verbrämt – suchen. Und wir sollten gerade dann der europäischen Solidarität Vorrang geben, wenn wir als Land für die Entstehung eines Missstands teilweise mitverantwortlich sind, wie das bezüglich der hohen Jugendarbeitslosigkeit in den Südländern der Fall ist. Schließlich haben Exportüberschüsse Deutschlands im EU-Binnenmarkt und das so entstehende wirtschaftliche Ungleichgewicht mit zur hohen Arbeitslosigkeit beigetragen. Und die ordoliberale Austeritätspolitik, die auf Betreiben insbesondere von Merkel und Schäuble in der Eurozone durchgesetzt wurde, war hier ein verstärkender Faktor, indem sie  den Spielraum der Regierungen einschränkte, über deficit spending Arbeitsgelegenheiten während der Krise zu schaffen. Es ist daher richtig und angemessen, wenn Deutschland zur beruflichen Zukunft arbeitsloser Jugendlicher aus, wie eben auch in diesen Regionen eigene und eigenfinanzierte Aktivitäten entwickelt.

 

„The job of my life“ war da ein Beginn, allerdings mit einem Manko, dass er vorrangig wegen des Lehrstellenmangels in Deutschland konzipiert war. Das hat dazu geführt, dass sehr viele Betriebszweige das Projekt in Anspruch nahmen, die zwar unter Lehrstellenmangel leiden, jedoch mit ihrem Ausbildungsangebot kaum eine Perspektive für das Herkunftsland eröffneten. Wer in Deutschland das Handwerk des Bäckers oder Fleischers erlernt, wer zur Verkäuferin oder im Hotelgewerbe ausgebildet wird, hat damit kaum mehr Chancen, in seinem Heimatland diesen dort überbesetzten Beruf auszuüben.

 

In europäischer Sicht interessant sind hingegen Ausbildungsgänge, die sowohl in Deutschland wie vor allem in den Herkunftsländern zukunftsträchtig sind. Das trifft z.B. für Lehrberufe zu, die für Aktivitäten der Energiewende, des Klimaschutzes, für eine nachhaltige und umweltverträgliche Siedlungsentwicklung,  Land- und Forstwirtschaft oder Verkehrstechnik gebraucht werden – echte Zukunftsberufe also. Es erscheint daher sinnvoll, „the job of my life“ in „jobs for our common european future“ umzudefinieren und gezielte Ausbildungshilfe für Betriebe und Vorhaben anzubieten, die für eine nachhaltige Entwicklung innerhalb der EU sinnvoll und wichtig sind.  Betriebe oder Vorhaben, die diesen Anspruch erfüllen, sollten dann für Ausbildungsgänge für junge Europäer*innen aus Regionen hoher Arbeitslosigkeit eine Finanzierung aus Bundesmitteln, entsprechend dem Modell des bisherigen Projekts „the job of my life“ beantragen können.

 

  1. Die europäische Jugendgarantie

 

Vor vier Jahren hat die Europäische Kommission mit der Europäischen Jugendgarantie  eine wichtige und zu Beginn sehr erfolgversprechende Initiative gestartet: Sie verpflichtet im Prinzip die Mitgliedstaaten, allen jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, später erweitert auf bis zu 30 Jahren, binnen 4 Monaten entweder eine bezahlte Arbeit  oder einen Ausbildungsplatz zu offerieren. Die Staaten sind gehalten, zur  JG Umsetzungsprogramme zu entwickeln. Sie erhalten unter dieser Voraussetzung Finanzen der EU, deren Höhe sich nach der  Jugendarbeitslosigkeit im Land errechnet. Die EK hat für den Zeitraum 1914-1918 insgesamt 6,4 Mrd. € zur Verfügung gestellt. Dieser Betrag wurde 2017 um 2 Mrd. € aufgestockt und die Geltungsdauer bis 2020 verlängert. Zur Dauer der anzubietenden Arbeit oder Ausbildung gibt es keine EU-weite Regelung, sie liegt im Ermessen der Mitgliedsstaaten. Die JG verbindet sich mit der Erwartung, dass die angebotene Maßnahme  die Aussichten auf eine existenzsichernde berufliche Tätigkeit erhöht. Es bedarf der Überprüfung, ob bzw. unter welchen Umständen das der Fall ist.

 

Die Europäische Kommission  hat zu den Wirkungen der JG positive Einschätzungen vorgelegt. In einer Mitteilung vom Oktober 2016[25] stellt sie fest, dass  die JA sich  von 24,4%  zu  Jahresbeginn 2013 auf 18,9%  im zweiten Quartal 2016 verringert hat und führt das u.a. auf die Jugendgarantie zurück. Allerdings ist zu beachten, dass zur Jahresmitte hin generell mehr Arbeitsangebote verfügbar sind. Vor allem aber wird nicht berechnet, welchen  Anteil für einen insgesamt günstigeren Arbeitsmarkt die konjunkturelle Entwicklung in den EU Ländern  hat.

 

Immerhin: Die JG-Programme, für die nach einigen Verzögerungen alle Länder Umsetzungspläne vorgelegt haben, erfassen an die 40% der als arbeitslos registrierten jungen Menschen, rund 9 Mio haben nach Auskunft der Kommission im Rahmen der JG eine Arbeit, Aus- oder Weiterbildung oder ein Praktikum erhalten,  zwei Drittel von ihnen  einen Arbeitsplatz. Allerdings bleibt völlig unklar,  für wie lange das ist und ob und in welchen Anteilen das zu Tätigkeiten von längerer Dauer geführt hat. Die EK vermerkt lediglich, dass 6 Monate nach Beendigung der Maßnahme noch gut ein Drittel (35,5%), in  einer Arbeit oder in Ausbildung befunden hätten.

 

Wesentlich kritischer zur Wirkung der JG fällt das Urteil des Europäischen Rechnungshofs aus, der im Frühjahr 2017 ein ausführliches Gutachten vorgelegt hat[26]. Zwar seien mit der JG begrenzt Fortschritte erzielt worden, jedoch konnten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt werden. Wenn über vier Millionen junge EuropäerInnen arbeitslos sind – in Griechenland 43%, Spanien 41%,  Italien 35%, Frankreich 24% –  sei das nicht als Erfolg zu werten. 

 

Der Rechnungshof bleibt allerdings mit seinen Empfehlungen vage und unbefriedigend. Mehr „Öffentlichkeitsarbeit“,  bessere „Kostenpläne“, „Kriterien zur Qualitätssicherung“ und „Überprüfung der Programme“: das klingt nach. Schreibtischformeln, statt nach handfesten Vorschlägen.

 

Alarmierend  ist die hohe Zahl der „NEETs“ – „Not in Employment, Education or Training Programs“ – wie junge Europäerinnen im Statistikjargon genannt werden, die sich weder in einer (angemeldeten) Arbeit doch in irgendeiner Form von Ausbildung befinden.[27] 16,7% der Jugendlichen bis 25 Jahre stehen so im Abseits, wobei ihr Anteil zwischen den Staaten erheblich differiert. Besonders hohe Werte haben:

  • Italien: 29,1%
  • Griechenland 23%
  • Spanien: 21,2%
  • Rumänien 23,6%
  • Bulgarien und Zypern: je 22,7%,

 

Noch schlimmer: Da die Ergebnisse für die 25-29jährigen noch negativer ausfallen, ist stark zu befürchten, dass es von der JA einen Übergang in Dauerarbeitslosigkeit mit allenfalls befristet-prekären Jobs bzw. „Schwarz“arbeit unter Umgehung von Rechten gibt. Denn der NEET-Anteil für 25-29 J. lag 2016 noch höher bei als bei den Jüngeren:

    • Griechenland 33,5%
    • Italien 32,5%
    • Spanien 24,2%
    • Frankreich 19,2%.

 

Aufschlussreich ist es,  die JA mit der Qualifikation zu  korrelieren[28]:

 

                        ohne Abitur                  mit Abitur           mit Hochschuldiplom

Spanien                    53,8%                          41%                           31,7%

Italien                       47,3%                         34,8%                         28,5%

Frankreich                40,3%                         23,7%                         15,7%

Griechenland            47,8%                         47,5%                         46,1%

 

Je weniger qualifiziert die Ausbildung ist, desto geringer ist die Chance, überhaupt  Arbeit zu finden. Wobei allerdings, wie die Statistik zeigt, im krisengeschüttelten Griechenland eine gute Qualifikation gegenwärtig auch nicht weiterhilft…

 

 

  1. Die Jugendgarantie in Spanien

 

Um Wirkungen oder Fehlschläge  der JG zu überprüfen, beziehe ich mich auf die Debatte  in Spanien. Das Land eignet sich auch deshalb, weil es, bedingt durch seine Rekordquoten an JA, von der EK die mit Abstand meisten Finanzanteile  zur JG erhalten hat.

 

Wo sind Erfolge zu verbuchen?

Wo haben sich erkennbar Defizite abgezeichnet?

Und vor allem: Wie kann das besser gemacht werden?

 

Spanien hat Ende 2013 als  erstes Land ein Programm zur Umsetzung  der JG vorgelegt und auf dessen Basis 2,6 Mrd. € erhalten, die mit Eigenmitteln in unbekannter Höhe noch aufgestockt wurden. Aufgrund jüngster Erklärungen der Arbeitsministerin, Fátima Bañez, hat die EK zusätzlich weitere 837 Mio. € bis 2020 zugesichert[29]. Jedoch wird die bisherige Umsetzung der JG in Spanien in der EK, seitens des zitierten Berichts des EU-Rechnungshofs und in weiten Kreisen der innerspanischen Öffentlichkeit als zu schleppend und unzureichend eingeschätzt. Laut „El País“ können deshalb statt der angekündigten Aufstockung Ansprüche auf Gelder aus Brüssel verloren gehen[30].

 

Zunächst zu den Daten: Bis zum  März 2016 hatte sich nur jedeR Fünfte (19%) der unter 30jährigen in Spanien für Programme der JG gemeldet[31], im Oktober 2016 waren es mit 421.000 immerhin  knapp 40% der registrierten  Arbeitslosen unter 30 Jahren. Von diesen Registrierten wurden 2/3 für maximal ein Jahr in Weiterbildungen ohne betriebliche Anbindung oder Praktika  vermittelt und nur 1/3 (143.000) erhielt ein vorübergehendes Praktikum oder Ausbildungsplatz in einem Betrieb[32].  Laut der Gewerkschaft  CCOO, werden in Andalusien, der europaweiten „Rekordregion“ an Jugendarbeitslosigkeit, von 448.000 jungen Arbeitslosen gerade 122.000 in der JG registriert[33]. Im oben geschilderten  Paterna de Rivera, dessen Rate der Jugendarbeitslosigkeit auf 75% beziffert wurde, war noch im Frühjahr  2015 die Möglichkeit einer Einschreibung in die Jugendgarantie den Betroffenen kaum bekannt.

 

Die Jugendlichen in Arbeit oder Weiterbildung erhalten in Spanien  aus dem Finanztopf der JG eine Monatszahlung von  430 €, entsprechend  dem Satz der Arbeitslosenhilfe in Spanien. Sofern in Betrieben eine Ausbildungszulage tariflich vereinbart ist, kommt diese ergänzend hinzu. Im Juni 2017 hat die Regierung die Dauer ihrer Zahlung auf  maximal 18 Monate verlängert und zugleich Betrieben für drei Jahre eine Zahlung von 400 € monatlich in Aussicht gestellt, sofern sie zusichern, die Jugendlichen nach Ende der Maßnahme für 3 Jahre weiter zu beschäftigen[34].

 

Es liegt auf der Hand, Mitnahmeeffekte in Betrieben zu befürchten. Wenn junge Menschen ohne gleichzeitige außerbetriebliche Bildungsmaßnahmen als  „Auszubildende“ zu einem Minimallohn eingestellt werden, der vom Staat bezuschusst wird, lädt das geradezu ein, sie als Arbeitskraft ohne oder nur mit geringer als Ausbildungszulage deklarierten Entlohnung einzusetzen. Das  Unternehmen kann so bei geringerer Lohnsumme den Beschäftigungssaldo konstant halten. Im Ergebnis schafft die JG dort dann nicht mehr Arbeit, sondern nur mehr subventionierte Arbeit.  Ob und wie ein solcher Missbrauch der JG effektiv kontrolliert, sanktioniert oder ausgeschlossen werden kann, ist an den bisherigen Regelungen nicht erkennbar.

 

Zum zweiten ist ohne ein entsprechendes Beratungssystem keineswegs gesichert, dass insbesondere die vermittelte Aus- oder Weiterbildung den jungen Menschen eine angemessene und sinnvolle berufliche Zukunft eröffnet. Die spanische Regierung hat zwar über Programme im Internet Zugänge zur Einschreibung in die JG eröffnet, jedoch kein speziell darauf zugeschnittenes Beratungssystem eingeführt. In Andalusien hat die nationale Regierung 2013 sogar die Finanzierung von Personalstellen zur gezielten Fachberatung  gestrichen, welche die Regionalregierung aufgrund der dramatischen Lage auf dem Arbeitsmarkt eingerichtet hatte. So wurde in unserem „Beispielort“ Paterna  das Personal im Arbeitsamt von 5 auf 3 Personen fast halbiert.

 

Entsprechend wurden und wird die spanische Umsetzung der JG von den Gewerkschaften und von NGOs als unzureichend und zu wenig gesichert gegen ausbeuterischen Missbrauch kritisiert. So hat das „European Anti Poverty Network“ (EAN) 2017 ein Recherche unter Jobcentern und Beratungsträgern in Spanien durchgeführt[35]. Dem Ergebnis nach ist der nur über digitale Medien erreichbare Zugang zur JG so kompliziert, dass insbesondere wenig qualifizierte Jugendliche bereits daran scheitern. 50% der Registrierten stecken auf, bevor die Maßnahme überhaupt begonnen hat. Es gibt nur höchst begrenzt Arbeitsangebote (30% aller Vermittlungen), in der Regel wird ein Bildungsprogramm angeboten, dass den Menschen, die bereits früher Qualifizierungen durchlaufen haben, bisher nichts gebracht hat.

Die AutorInnen  dieser Studie schlagen Modelle vor, in denen Bildungsprogramme mit Arbeitspraxis verbunden werden. Jedoch sind dafür von staatlicher Seite keine Finanzen vorgesehen.

 

Bestätigt wird das eher pessimistische Bild zu bisherigen Erfolgen der JG in Spanien durch die Entwicklung des Arbeitsmarkts. Zwar geht die Jugendarbeitslosigkeit im Land leicht zurück. Doch hat das zunächst zwei Gründe: Der enorme Zusatzbedarf in der Tourismus-Wirtschaft und die massive Abwanderung junger SpanierInnen in andere europäische Länder. Für die Zurückbleibenden hingegen nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sie lediglich temporäre, zeitlich befristete Jobs finden. Die landesweite Umfrage zur aktiven Bevölkerung, „Encuesta de Población Activa“ (EPA) von 2017  weist deutlich aus, dass gerade junge Menschen immer häufiger in unsicheren  Arbeitsverhältnisse ohne irgendeine Dauerperspektive landen: Ich zitiere die Ergebnisse  aus dem „Panorama der Jugendarbeit“, dem „Panorama del Empleo Juvenil“, einer Schrift der Jugendorganisation der Gewerkschaft „Allgemeine Arbeiterunion“, der UGT[36]:

 

  • 73% aller Jugendlichen unter 25 Jahren arbeiten, sofern beschäftigt, in zeitlich befristeten und jederzeit entschädigungslos kündbaren Verträgen
  • Ihr prozentualer Anteil geht nicht zurück; vielmehr ist er gegenüber dem Vorjahr noch um 2,2% gestiegen
  • 56% aller jungen Menschen unter 35 Jahren arbeiten nur befristet.
  • Nur 9% alle unter 25jährigen  machen eine Lehre oder ein Praktikum.
  • An JA insgesamt weist die EPA 2017 spanienweit 41,7% aller Jugendlichen unter 25 Jahren, für Andalusien sogar 54% aus.

 

Aus den Gewerkschaften CCOO und UGT werden verschiedene Vorschläge eingebracht, wie die Wirksamkeit der JG verbessert werden kann.  Etwa:

  • Angebote einer Frühverrentung mit 61 Jahren, um mehr Raum für Neueinstellungen zu schaffen
  • Landesweite Einrichtung von Beratungs- und Vermittlungszentren zur Jugendbeschäftigung, nach dem Vorbild nordeuropäischer Länder
  • Ein Statut, das „Estatuto del Becario“, das die Höhe der Auszahlungen, soziale Sicherungen und Schutz gegen Arbeitsrisiken für Auszubildende und Praktikanten verbindlich regelt. Dazu werden gegenwärtig im Nationalparlament Vorschläge erarbeitet, die von den Oppositionsparteien PSOE und Podemos  getragen werden. So schlägt Podemos vor, dass alle Auszubildenden und Praktikanten den Mindestlohn inklusive Kosten für die Anreise zum Betrieb erhalten[37].
  • Wirksame Kontrollen und Sanktionen bei Betrieben, die die Bonifikationen der JG missbrauchen
  • Gesetzliche Regelungen, die den insgesamt hohen Anteil prekärer Arbeit, der insbesondere junge Menschen ausgesetzt sind, verringern[38].

 

Unabhängig von sinnvollen Vorschlägen zur verbesserten Wirksamkeit der JG bleibt generell das Dilemma, dass Regelungen immer dann kurz greifen, wenn sie nicht auch die verfügbaren Angebote an bezahlter Arbeit oder Berufsausübung vergrößern. In einem quantitativ begrenzten Arbeitsmarkt kann generell nur eine Umverteilung stattfinden, es sei denn, die Menge verfügbarer Arbeitsplätze vergrößert sich etwa durch Arbeitszeitverkürzungen oder Frühverrentungen. Je mehr es ansonsten gelingt, junge Menschen in möglichst qualifizierte Arbeit zu integrieren, desto mehr steigt damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich Arbeitsangebote für Beschäftigte anderer Alterskohorten entsprechend verringern. Das würde im Erfolgsfall vielleicht zu mehr intergenerationeller Gerechtigkeit führen, jedoch Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung nur umschichten und ggf. Altersarmut vergrößern[39]. Und mit einer Ausweitung von deutlich geringeren, zudem staatlich subventionierten Löhnen für junge Menschen im Ausbildungsstatus nimmt das Risiko zu, dass  Betriebe tariflich entlohnte Arbeit einsparen und durch junge Hilfskräfte zu Niedriglohn ersetzen. Ohne wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Begleitmaßnahmen ist die JG ein Nullsummenspiel. Sie bietet zwar eine zeitlich befristete Brücke in den Arbeitsmarkt, vergrößert aber nicht das Angebot an Arbeit insgesamt. Man kommt also nicht umhin, sich in der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit darüber Gedanken zu machen, wo und wie sinnvolle Tätigkeitsfelder gefunden werden, von denen die jungen Menschen leben können.

 

  1. Zukunft mit „Energie“ gestalten

 

Noch ist es nicht ganz zu spät, auch wenn Europa bezüglich der Jugendarbeitslosigkeit fast ein Jahrzehnt weitgehend verspielt hat. Statt weiter einfach hinzunehmen, dass Millionen  junger Arbeitsloser keine berufliche Zukunft hat, von der sie  leben können, und mit diesem Attentismus die europäische Staatgemeinschaft noch mehr in den Niedergang führt, kann und sollte die EU endlich ein umfassendes Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramm für alle Menschen unter 25 oder 30 Jahren auf den Weg bringen. Die Mitgliedsstaaten haben dreistellige Milliardensummen Großbanken hinterhergeworfen, um sie vor den Folgen ihrer verantwortungslosen Spekulationen zu bewahren. Ist ihre Rettung vor selbstverschuldetem Bankrott, nur weil sie „systemnotwendig“ sei, wichtiger als die weit weniger kostspielige Entscheidung, endlich der abgehängten Jugend  einen sicheren Weg in einen Beruf zu öffnen, von dem sie auch leben kann? Also: in die Hände gespuckt und jungen Europäer*innen ohne oder in prekärer Arbeit Ausbildung und Berufsfelder gezielt  in solchen Tätigkeitszweige öffnen, welche die Umwelt und Lebensbedingungen verbessern und damit in dieser Weise die Zukunft Europas sichern. Junge Menschen, die abgehängt zu werden drohen, eine berufliche Chance zu bieten, mit der sie  zur Avantgarde einer nachhaltigen Entwicklung werden und sich auf diese Weise  auch persönlich eine Zukunft verschaffen.   

 

Als nur ein Beispiel für eine solche, Jugendarbeitslosigkeit verringernde, Strategie bieten sich Aktivitäten zur Beschleunigung einer klimaverträglichen Energiewende an. Ohne Zweifel wären sie gerade für die südeuropäischen Regionen von besonderer Relevanz. „Die Wüste kommt“ titelt ein Presseartikel[40], der sich auf jüngere Studien zur Klimakrise bezieht[41]. Demnach wird es im gesamten mediterranen Raum  neben einer weiteren Zuspitzung des bedrohlichen Wasserrnangels eine weiträumige Ausbreitung von Wüsten schon dann, wenn die Erderwärmung über eine Zunahme von 1,5% Celsius gegenüber dem Stand von 1900 hinausgeht. Die Desertifikation wird starker Erosion in landwirtschaftlich genutzten Böden der Südländer „vorbereiten“, stark befördert durch rücksichtslosen Umgang mit den Flächen. Ein Beispiel aus der Olivenkultur, deren europaweit größten Anbaugebiete sich in Andalusien befinden[42]:  Nach Untersuchungen, die 2012 veröffentlicht wurden[43], ging mit den Olivenplantagen  in den Bergregionen seit 1980 mehr an fruchtbarem Boden verloren, als in den 200 Jahren zuvor. Die Gesamtverluste hier werden auf 29-40% geschätzt[44]. Hoch „wüstengefährdet“ sind unter anderem Andalusien, Extremadura, Teile Innerspaniens, Sizilien, Kalabrien und weite Teile Griechenlands. Die sommerlichen Trockenperioden der letzten Jahre sind nur ein Vorgeschmack der zu erwartenden Dürrekatastrophen. In Spanien hatte die diesjährige Trockenheit  grotesker Weise zur Folge, dass die C02-Emissionen des Stromsektors im Halbjahresvergleich Januar-Juli um 71,4%, von 24,1 Mio t auf 41,3 Mio to anstiegen[45]. Schließlich werden alle Küstenstädte auch im Mittelmeerraum von der Erhöhung des Meeresspiegels gefährdet. So ist schwer vorstellbar, dass Cádiz, eine der ältesten Städte Europas, dieses Jahrhundert überstehen wird.

 

Eine verantwortlich handelnde Regierung im Mittelmeerraum kann es sich angesichts dieser Großrisiken nicht leisten, in der Klimapolitik weiter zu bremsen. Gerade weil sie im Eigeninteresse darauf angewiesen sind, dass andere Länder sich ernsthaft und schnell im Abbau von Treibhausgas-Emissionen engagieren, dürfen sie nicht abwarten. Sie müssen sich selbst ins Zeug legen, wenn sie glaubwürdig analoges Handeln von anderen Ländern erwarten wollen.

 

Die Möglichkeiten, die sich hier für eine klimaverträgliche Energiewende bieten, sind in den mediterranen Regionen günstiger als in allen anderen europäischen Ländern.  Fast alle Länder haben mit langen Küstenlinien und teilweise ihre Inseln ausgesprochen günstige Lagen zur Windnutzung; die Sonnen-Einstrahlung, damit die Wirksamkeit solarelektrischer und thermosolarer Erzeugung, liegt hier um 50-80%  über den Werten nördlich der Alpen; die Energieeffizienz fast aller Bereiche ist im europäischen Vergleich weit unterdurchschnittlich und folglich stark ausbaufähig.

 

Eine aus Klimagründen zwingend gebotene Energiewende eröffnet zugleich in allen südeuropäischen Ländern einen hohen Zuwachsbedarf an zumeist qualifizierter Arbeit. Besonders augenfällig ist das im Bereich der Energieeffizienz. So errechnete das staatliche Fachinstitut IDAE für Spanien im Zeitraum 2011-2020, dass allein eine konsequente Umsetzung der EU-Direktiven 288.000 überwiegend qualifizierte Arbeitsplätze direkt  und 763.000 indirekt erbringen wird. Rechnet man die  bereits bestehenden Arbeitsplätze in dieser Branche ab, so ergäben sich immer noch 182.000 Arbeitsplätze direkt und  582.000 indirekt[46]. Die Stiftung „Arbeit am Bau“, die Fundación Laboral de Construcción kam mit 166.000 und 600.000 Arbeitsplätzen zu ähnlichen Ergebnissen[47]. Zu den Beschäftigungswirkungen einer Umorientierung auf Erneuerbare Energie und Speichertechnologien, auch über die klassische Stromversorgung hinaus, liegen mir keine Schätzungen vor, es ist aber unstrittig, dass allein die veränderten Qualifikationsanforderungen enorme berufliche Perspektiven gerade für junge Menschen  bieten. Er würde den zugleich erfolgenden Abbau von Arbeitsgelegenheiten in der Erzeugung und Nutzung fossiler (und nuklearer) Energieträger mit Sicherheit weit mehr als kompensieren.

 

  1. Energieberatung als Selbsthilfe

 

Die EU-Kommission sollte mehr auf eine Zusammenarbeit mit Kommunen setzen und  anhand gemeinsamer Aufgaben ihre transnationale Vernetzung fördern. Bezüglich des Klimaschutzes bietet sich hier der „Konvent der Bürgermeister“ an, den die Kommission 2009  ins Leben gerufen hat. Diesem Zusammenschluss gehören inzwischen über 7.000 kommunale und regionale Körperschaften an, von Dörfern und Kleinstädten bis zu Metropolen wie Rom, Madrid, Berlin oder Lissabon. Die Bürgermeister haben sich mit der Zugehörigkeit  zu dem Klimaschutz dienlichen Aktivitäten verpflichtet, wie der, den Ausstoß der Treibhausgase (leider nur C02-Emissionen) bis 2030 um mindestens 40 % zu reduzieren und dazu ein Konzept für Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel in ihrer Gemeinde zu erarbeiten. Mit diesem  Konvent könnte die EU ein gemeinschaftsfinanziertes Startsignal für eine Energiewende-Bewegung geben, die in den Kommunen von dort lebenden Menschen getragen wird, und zwar so:

 

Mitgliedskommunen, ob  bereits im Konvent oder diesem beitretend[48], wird angeboten, eine  Grundausbildung aus dem Kreis junger Arbeitsloser zu  kommunalen Energieberater*innen (mit)zu finanzieren. Dabei sollte sich die Kommission ganz auf die „Südstaaten“ mit hoher Jugendarbeitslosigkeit konzentrieren, was auch deshalb naheliegt, weil hier besonders viele Gemeinden dem Konvent beigetreten sind[49].

 

Im Rahmen der Jugendgarantie erhalten die jungen Arbeitslosen  eine Grundausbildung zum Umgang mit Energie in Haushalten, Kleinbetrieben, öffentlichen Einrichtungen und im Verkehr, einschließlich der Nutzung erneuerbarer Energien im Eigenverbrauch,  sowie zur Bildung von Genossenschaften, die gemeinschaftlich handeln. Im zweiten Schritt lernen sie,  wie sie die dort lebenden Menschen, ansässigen Unternehmen und Einrichtungen beraten und ihnen helfen können, den Umgang mit Energie besser und klimagerechter zu regeln. Diese Teams können sich länderübergreifend vernetzen und damit zu einer genuin europäischen Energiewende-Bewegung werden. Sofern das gelingt, hätte die Aufgabe des Klimaschutzes gesellschaftliche Wurzeln in eben der Generation, um deren Zukunft es dabei geht.

 

Zu finanzieren wäre die Ausbildung in beiden Phasen aus dem aufzustockenden Etat der EU-Jugendgarantie, kombiniert mit Geldern aus den Strukturfonds für die jeweiligen Ländern und Regionen. Soweit sich die Kampagne mit Investitionen verbindet,  ist die Europäische Investitionsbank gefragt. So wäre es dann z.B. möglich, auch einkommensarmen Haushalten Mikrokredite zu gewähren, die ihnen den Einbau von Solaranlagen ermöglichen, die über die Einsparungen aufgrund des kostenfreien Eigenverbrauchs zurückgezahlt werden.

 

Da die Ausbildung zu Energieberater*innen zeitlich begrenzt ist, hilft sie nicht unmittelbar, die Jugendarbeitslosigkeit dauerhaft zu verringern. Allerdings nützt sie den so Ausgebildeten, eine berufliche Zukunft zu finden, immer vorausgesetzt, dass das Land oder die Region, wo sie leben, die Zukunftsaufgabe des Klimaschutzes ernsthaft angeht. Vor allem aber können und sollten die EU und die von hoher Jugendarbeitslosigkeit betroffenen Mitgliedsländer gemeinsam eine dauerhafte Finanzierung kommunaler Energieberater einrichten. Einsetzbar wäre hier zum einen ein unbefristeter[50] Sonderfonds gegen Jugendarbeitslosigkeit, in Verbindung mit Mitteln der Strukturförderung. Zum anderen aber können alle Mitgliedsstaaten eine Regelung der EU-Richtlinie Nr. 27 von 2012 endlich nutzen. Sie verpflichtet alle großen Energieversorger, eine Einsparung von Energie bei den von ihnen belieferten Einrichtungen und Haushalten zu erreichen. Die Mitgliedsstaaten können auf dieser gesetzlichen Grundlage von den Unternehmen eine (Mit-)Finanzierung kommunaler Energieberatungen verlangen und das per Gesetz auch fixieren.

 

Schließlich wäre zu schauen, wie weit  und unter welchen Umständen eine Eigenfinanzierung der Beratungen durch Energiecontracting möglich ist, also die Verrechnung der erreichten finanziellen Einsparungen mit den Einkünften der Energieberater*innen.

 

  1. Mehr Arbeit mit weniger Energie – ein Ausbildungsprojekt

 

Im Jahr 2014 haben wir[51]  für 3 Monate ein Projekt zur Ausbildung zu kommunalen Energieberater*innen durchgeführt. Im bereits erwähnten Paterna de Rivera in der Provinz Cádiz haben wir nach öffentlicher Bewerbungsrunde und Eignungstests, die notwendige Fertigkeiten in Informationstechnik betrafen, fünf arbeitslose junge Männer und drei Frauen[52], zwischen 20 und maximal 30 Jahren für den Kurs unter Zahlung von Stipendien ausgewählt.

 

In der vierwöchigen ersten Phase wurden sie zunächst mit  notwendigen Kompetenzen und Kenntnissen ausgestattet, und zwar:

  • Gründe und Zusammenhänge für die Notwendigkeit einer klimaverträglichen Energiewende (allgemein sind hier die Kenntnisse in der ansässigen Bevölkerung sehr unentwickelt).
  • Einblicke in das europäische und nationale Gesetz- und Regelwerk zum Umgang mit Energie.
  • Einblicke in die Technik und Ökonomie von Photovoltaik, Solarthermie und Windkraftnutzung
  • Vorbereitung gezielter Energieanalysen und Beratungen, zunächst in Haushalten. Dazu hatten wir im Vorfeld einen Info-Flyer „Energiesparen geht uns alle an“, den wir überall im Ort verteilten.
  • Einführung in informationstechnisches Rüstzeug, wie das der Erstellung von Energieaudts, und Handhabung von technische Apparaten, die für die spätere „Feldarbeit“ benötigt wurden.
  • Die späteren Beratungsgespräche wurden durch gezieltes Training in Form von Rollenspielen vorbereitet, außerdem übten wir den Publikumsvortag zum Energiesparen mit zwei Veranstaltungen ein, die allerdings nur größeren Zulauf beim ersten Mal fanden, als wir uns auf den engen Familien- und Freundeskreis begrenzten. Zur dann öffentlichen Veranstaltung erschien dann, trotz breiter Werbung und unserer guten sozialen Vernetzung im Ort, nur ein Dutzend Zuhörer. Das signalisierte, wie auch die geringe Resonanz auf unseren Energiesparflyer, ein deutliches Desinteresse am Thema, auch wenn die Klage über etwa hohe Stromkosten allgemein verbreitet ist und viele Haushalte ihre Strom- und Wasserrechnungen nicht zahlen können.

 

In der zweiten, praktischen Phase setzen wir uns mit einem Dutzend Haushalte in Verbindung, die bereit waren, sich einer ausführlichen Energie-Analyse und Beratung zu unterziehen. Uns war klar, dass eine kommunale Energieberatung vor Ort normalerweise  ohne gründliche Energie-Analyse der Gebäudehülle stattfindet, doch es handelte sich um ein Ausbildungsprojekt, in dem die Schüler auch lernen sollten, fachgerechte und anspruchsvolle Energieaudits zu erarbeiten. Nach einer Analyse der Gebäudestruktur vorab besuchten wir die Häuser, um sie hinsichtlich sämtlicher energierelevanten Merkmale zu vermessen und zu inspizieren, sowie die Nutzungsgewohnheiten aller Elektrogeräte zu erfragen. 

 

Die Daten wurden anschließend verarbeitet und ausgewertet, wobei wir zur Feststellung der Energiewerte der Gebäudehülle ein spanienweit für Energieaudits entwickeltes Rechenprogramm nutzen konnten. Der letzte und wichtigste Schritt waren dann gezielte Empfehlungen zu sinnvollen und möglichen Einsparungen in den Haushalten. Dabei berechneten wir auch die erforderlichen finanziellen Aufwendungen und Amortisationszeiten. Die Empfehlungen wurden den betreffenden Familien schriftlich fixiert übergeben und in einem mündlichen Gespräch ausführlich erläutert.

 

Aus den Energieanalysen im Ort konnten wir interessante und verallgemeinerbare Schlüsse ziehen, die in der Evaluation unseres Projekts näher dargestellt sind[53].

 

Phase 3 waren Energieaudits und Energieberatungen in örtlichen Betrieben und öffentlichen Einrichtungen. So komplex und langwierig hier die Untersuchungen  in einigen Fällen waren, so enorm waren dann um so mehr die möglichen Einsparungen, die sich eröffneten. Offenbar werden die meisten Betriebe von interessierten Stromlieferanten schlecht beraten und haben eine viel zu hoch veranschlagte zu erwartende Leistungsspitze, die in der Stromrechnung sehr stark zu Buche schlägt.. Ebenso sind die elektrischen Nutzgeräte – von der Friteuse bis zu den Kühlschränken –  häufig Energiefresser. Die Klimaanlagen, die vorzuweisen heute jeder dortige Betrieb sich bemüßigt sieht, haben, sind in größeren Gebäuden zumeist unvorteilhaft, bei höherem Stromkonsum, vernetzt. So konnten wir denn einem großen und volkstümlichen Restaurant darlegen, dass es die monatlichen Stromkosten, die bei über 1.000 € lagen, etwa halbieren kann.

 

Hinzu kamen die besonderen Chancen von Betrieben für die Nutzung von Photovoltaik. Solarwärme wird in dieser Gegen schon vielfach genutzt, denn sie lohnt sich in jedem Fall. So konnten wir dem Restaurant vorrechnen, dass es  mit einer zusätzlichen PV-Anlage auf dem Dach 30-40 % des jetzigen Strombedarfs abdecken würde, bei einer Amortisationszeit von 6 Jahren. Würde der Betrieb unseren sonstigen Einsparungsvorschlägen folgen, wäre er damit nahezu energieautark.

 

Die vierwöchige[54]  Anschluss-Phase  konzentrierte sich neben fortgesetzter Betriebsberatungen auf zwei Themen:

 

Zum einen wurde in Zusammenarbeit mit einer Klasse von Grundschülern eine Lern- und Bildungswoche für Klimaschutz durchgeführt. Sie verband spielerischen Lernphasen mit Aktivitäten der Kinder zu Hause, die u.a. den Umgang mit Energie in der Zeit ihrer Großeltern erkunden sollten. Es schloss mit einem prämiierten Malwettbewerb ab.

 

Zum zweiten wurde eine umfassende Befragung in Haushalten zu Einstellungen und Kenntnissen bezüglich Energie durchgeführt.  An diesen Befragungen beteiligten sich knapp 500  Menschen, ein bemerkenswerter Anteil bei einer Einwohnerzahl von 5.600. Im Verhältnis von 389:97 waren es ganz überwiegend Frauen, was auf ihre weiterhin tragende Rolle in einer Gesellschaft mit stark patriarchalen Vergangenheit verweist,  vielleicht aber auch zeigt, dass Frauen generell für Fragen des Klimaschutzes und des Energiesparens aufgeschlossener sind. Der Alterdurchschnitt mit 78  18-30jährigen  und 303  30-45jährigen  zeigt, dass vor allem die jüngere Generation zur Mitwirkung bereit war.

 

Interessant ist das Muster der Antworten auf die sieben Fragen komplexe:

 

  • 94% glaubt, dass weltweite Energieprobleme Energieeinsparungen  unerlässlich machen
  • 49% meinen zu wissen, wie sie in ihrem Heim einsparen können
  • 15% nutzen in ihrem Haus erneuerbare Energien (in aller Regel Solarwärme)
  • 91% nutzen das Auto auch für kurze Distanzen[55]
  • 20% kennen das Energielabel für PKWs
  • 75% nutzen Energiesparlampen (zumeist LED)
  • 78% trauen den Energielabeln der häuslichen Elektrogeräte

 

Ich halte die Ergebnisse, aufgrund der Art der Durchführung der Umfrage, für  instruktiver als die üblichen großräumigen Umfragen via Telefon und bezahlter Büros, mit der sich das politisch oder fachlich interessierte Publikum zumeist abspeisen lässt. Statt anonyme Telefonate im Serienformat zu führen,  wurden direkte Gespräche mit Menschen geführt, die eine gemeinsame Ortszugehörigkeit  verbindet und die bereits Kenntnis über den Sinn und Zweck unseres Projekts hatten. Die damit vorhandene Vertrauensbasis  erklärt zum einen die hohe Teilnahmebereitschaft, zum anderen  macht sie „ehrliche“ Antworten wahrscheinlicher[56].

 

Ob und inwieweit die Ausbildung als kommunale Energieberater*innen berufliche Perspektiven eröffnet, kann aus einem begrenzten Projekt nicht abgeleitet werden, zumal gegenwärtig Ansätze zur Weiterführung, wie sie oben vorgeschlagen wurden, fehlen. Dennoch: Für zwei der acht Teilnehmer war das Projekt direkt für den Erwerb einer qualifizierten, angemessen bezahlten und offenbar auf Dauer angelegten Arbeit behilflich. Eine Teilnehmerin wurde dadurch motiviert, ein Ingenieursstudium mit Schwerpunk „Energieeffizienz“ zu ergreifen, das sie gegenwärtig beendet. Für die übrigen fünf war es nach eigenem Bekunden eine sinnvolle Fortbildung, auch wenn  sie für drei unter ihnen, die eine Arbeit fanden, für ihre Einstellung nicht direkt behilflich gewesen ist.  Ein Schüler konnte sein Ingenieursstudium abschließen,  hat aber eine attraktive Anstellung nicht annehmen können, weil ihm geforderte Englisch-Kenntnisse fehlen. Eine Frau ist weiterhin dauerhaft arbeitslos.

 

Gegenwärtig bemüht sich  die Berliner „Hochschule für Technik und Wirtschaft“, mit Akteuren des Sekretariats für Zukunftsforschung der FU Berlin, des Ökowerk Berlin und der Ludwig Bölkow Systemforschung, in Zusammenarbeit mit der der Universität Cádiz und der griechischen NGO Wind of Renewals darum, ein umfassenderes Ausbildungsprojekt für Energieexperten in südeuropäischen Regionen auf den weg zu bringen:

 

Für ausgewählte Länder wird ein Kooperationsprojekt mit dem Ziel vorgeschlagen, junge Arbeitslose über ein duales Ausbildungs- und Studienprogramm – etwa nach dem Vorbild der Berufsakademien – im Energy Service Management mit Diplomabschluss oder einem gesonderten qualifizierten Zertifikat theoretisch und praktisch auszubilden.

 

Die Auszubildenden beteiligen sich blockweise an Lehrveranstaltungen, die  neben allgemeinen Inhalten in Recht, Volks- und Betriebswirtschaft sowie Ökologie insbesondere Kenntnisse in Energiewirtschaft und Klimaschutz vermitteln. Ihr Basiswissen erwerben sie an einer im Kooperationsland zu gründenden ‚Akademie für Energietechnik, Energiewirtschaft und Informatik‘. Darüber hinaus arbeiten die Auszubildenden mit Partnern aus der Technik und Wirtschaft (Solartechnik, Elektrohandwerk, Energiedienstleistungen etc.) sowohl in Deutschland als auch in den Kooperationsländern an konkreten Praxisprojekten zusammen. So sollten sie, jeweils als Team, unter Anleitung von Experten in der Planung, Installation, dem laufenden Betrieb und der Wartung der Energieversorgung samt erforderlicher  Kalkulation der Wirtschaftlichkeit in einem Verbund von Haushalten, Siedlungskomplexen, Unternehmen, Stadtverwaltungen, Stadtwerken  oder Genossenschaften mitwirken.

 

Als weitere Lerneinheit sollten die Auszubildenden im praktischen Teil gemeinsam mit Energiefirmen und z.B. Stadtwerken in Deutschland derartige Energie- und Wirtschaftlichkeits-Analysen entwickeln und erproben. Diese Aktivität begründet sich daraus, dass Deutschland in allen in Frage kommenden Bereichen (wie Industrie, Haushalte, Infrastruktur) über gute Techniken und Modelle der Energieeinsparung und der Steigerung der Energieeffizienz sowie einen hohen Entwicklungsstand beim Einsatz regenerativer Energie und Energiespeichertechniken für Strom und Wärme verfügt.

 

Die Studienorte richten sich nach den Standorten der Ausbildungsstätten sowie den Betriebsstätten der beteiligten Unternehmen in den Partnerländern und in Deutschland. Durch eine geeignete Einführungsphase und den notwendigen mehrfachen Landeswechsel können die Auszubildenden Sprachkenntnisse und interkulturelle Kompetenz erwerben.

 

Sofern sich diese Kooperationsprojekte gut entwickeln, könnten nach einer entsprechenden Evaluation weitere Ausbildungsgänge entwickelt und Ausbildungsstätten hinzugefügt werden. Ziel ist der  Aufbau fester Ausbildungsstätten nach dem deutschen Muster der Berufsakademien.

 

Man wird sehen.

[1] “Die Arbeitslosen in Marienthal”, veröffentlicht 1933, ist die erste wegweisende Studie zur Arbeitslosigkeit und ihren Wirkungen in einem kleineren Ort.  Sie kommt zum bedrückenden Ergebnis, dass dieser unhaltbare Zustand in Resignation führt und die Bereitschaft zum aktiven Widerstand eher schwächt.

[2] Mucho viento, mucho sol, poco trabajo. Un pueblo en Andalucía. spanisch und deutsch: Viel Wind, viel Sonne, wenig Arbeit – ein Landort in Andalusien 2014. Von Antonio Lozano Gil, Hartwig Berger, Gloria Sanchez Benítez. Beauftragt von Hiltrud Breyer, Mitglied des Europäischen Parlaments. Unter www.hartwig-berger.de, in beiden Fassungen zu sehen..

[3] Hartwig Berger/Manfred Heßler/Barbara Kavemann, Brot für heute, Hunger für morgen. Landarbeiter in Südspanien. Frankfurt 1978.

4 Daten von Eurostat, für Andalusien/Cádiz aus dem Diario de Cádiz, für Paterna vom örtlichen Arbeitsamt.

[4] El Mundo, 27.06. 2017

[5] El País, 23.3. 2013

[6] El País, 2.5. 2013

[7] El País, 25.4. 2013

[8] El País, 23.01. 2013

[9] Personennamen wurden geändert

[10] El Diario de Cádiz, 28.09.2017

[11] El País, 30.12. 2013

[12] El País, 16. 09. 2014

[13] Die Strompreise in Spanien stiegen für Kleinverbraucher im Jahrfünft 2008-2012 um 60%. El País 20.3. 2013.

[14] Diario de Jerez, 10.05. 2017

[15] „relative Armut“ definiert als < 60% Einkommen, verglichen zum Durchschnittseinkommen.

[16] El País 20.03. 2013.

[17] El País, 11.10. 2012

[18] El Mundo, 25.4. 2017

[19] El Mundo, 13.04. 2017

[20] u.a. El País, 25.08.2013

[21] El País 25.4. 2013.

[22] Zu den dortigen Arbeitsbedingungen siehe die oben zitierte Aktion der Gewerkschaft CCOO Ende September 2017.

[23] Die Hasenhatz ist in Spanien legal und  in Andalusien sehr verbreitet. Ein  Hase wird von zwei Windhunden eine festgelegte Strecke gehetzt, der „erfolgreiche“ oder schnellste Hund kommt eine Runde weiter. Mit jedem „Sieg“ steigt der Marktwert der Hündin… . Windhunde werden  auch für die Geländejagd und für Treibjagden gezüchtet.

[24] Die folgende Kurzanalyse stützt sich vor allem auf Erfahrungen, die ich aufgrund ehrenamtlicher Vermittlung einer ganzen Reihe Jugendlicher aus der genannten Region in das Ausbildungsprogramm gemacht habe. Vgl. dazu meinen unveröffentlichten Artikel „Junge Andalusier lernen Umwelttechnik in Berlin – Bericht zu einem Projekt“. Auf  meiner website: www.hartwig-berger.de, über „Jugend und Arbeit“ zu finden.

 

 

[25] eur-lex-europa-eu/homepage

[26] Tribunal de Cuentas Europeos, Informe Especial No.5/2017

[27] Daten aus europa.eu/eurostat/…/Statistics_on_young_people_neither_in_employment_nor_in education.

[28] Aus le Monde 14.8. 2017, S.12. Nach Daten von Eurostat, ohne näheren Quellennachweis.

[29] Mitteilung der Ministerin auf einer Pressekonferenz. El País 20.7. 2017.

[30] El País, 23.7. 2017

[31] El País 23.03. 2016

[32] Crónica Global (Internetzeitung in spanischer Sprache), 10.3. 2017.

[33] Europapress/Andalucía, 20.6.2017

[34] El País  20.7. 2017

[35] Zusammenfassung in Cuarto Poder, 30.06. 2017

[36] „La Juventud Explotada“, Informe de la UGT,  veröff. August 2017 anlässlich des Internationalen Tags der Jugend.

[37] El Mundo, 18.7. 2017

[38] U.a. „La Juventud Explotada“, a.a.O.

[39] Es ist daher konsequent, wenn die spanischen Gewerkschaften auch mehr Möglichkeiten zur Frühverrentung vorschlagen.. 

 

[40] Süddeutsche Zeitung, 22.11. 2016

[41] Science, Vol. 354, 28.10.2016 fasst die Forschungsergebnisse zusammen.

[42] In Spanien insgeamt werden 2,5 Mio ha mit Oliven bewirtschaftet, mehr als die Hlälfte davon in Andalusien.

[43] Instituto de Agricultura Sostenible, Sevilla. Zit. Nach El País 26.08. 2012

[44] Auf nationaler Ebene gab es keine Bemühungen, die Bewirtschaftung aufgrund solcher Ergebnisse zu ändern. Dabei wäre es z.B. unschwer möglich, zum herkömmlichen System der Zwischenpflanzungen mit Getreide oder mit Gras zurückzukehren. Der Ertrag an Oliven würde sich verringern, doch leidet die  Branche, die ihre Erträge pro ha über wenige Jahrzehnte etwa verzehnfach hat, ohnehin an notorischer Überproduktion.

[45] El País, 15.08. 2017.

[46]  Instituto para la Diversificación y Ahorro de la Energía (IDAE), Plan de Acción de Ahorro y de Eficiencia Energética 2011-2020, S.116ff.

[47] El Confidential, 29.04. 2013

[48] Diese Zusatzklausel erscheint nötig, da bisher, aus mir nicht bekannten Gründen,  Griechenland bisher nicht vertreten ist. Allerdings ist das Schaubild der Zugehörigkeit nach Ländern veraltet, so dass eine Zugehörigkeit aus Hellas inzwischen möglich ist.

[49] Italien: 1430, Spanien: 807, Portugal:526 (nach dem veralteten Internet-Schaubild)

[50] Gegenwärtig ist die EU-Finanzierung bis 2020 befristet.

[51] Gemeinsam mit Elisabeth Herrera Acosta, einer jungen Ingenieurin aus dem Ort.  In pädagogischen Fragen war Gloria Sanchez Benítez, ebenfalls ortsansässig, behilflich. Die Durchführung wurde durch die Heinrich-Böll-Stiftung, private Spenden aus dem Freundes- und Familienkreis und ehrenamtliche Arbeit möglich. Unterstützt wurde es von der Ludwig-Bölkow Stiftung und dem Ökowerk Berlin. Das Rathaus von Paterna de Rivera stellte die Räumlichkeiten mit Internet-Anschluss zur Verfügung.

[52] Die Ausbildung gerade junger Frauen zu Energieberaterinnen ist (nicht nur) in Spanien wichtig, weil insbesondere Frauen zum Umgang mit Energie im Haushalt besonders sensibel und aufgeschlossen sind und ihnen in der traditionellen Rollenverteilung diese Aufgabe auch zugewiesen wird.. Umfragen im Verlauf unseres Projekts bestätigten das sehr deutlich.

[53]  Unter www.hartwig-berger.de, Ordner „Spanien/Andalusien, dort Ausbildungskurs Energieeinsparung und Energieeffizienz, Teil I, S.10-12.

 

[54]  Diese ergänzende Phase wurde möglich dank einer nachgetragenen Finanzierung durch die Heinrich-Böll-Stiftung. Die geltend gemacht Gesamtkosten des 3-monatigen Projekts lagen bei rund 20.000 €.

[55]  Es hat sich in den andalusischen Ortschaften “eingebürgert”, auch dann für kurze Wege das Auto zu nehmen, wenn das zeitlich kein Gewinn ist und genügend Zeit ist..

[56] Vor über 40 Jahren  habe ich Schwächen und Insuffizienzen der Umfrageforschung ausführlich kritisiert (Untersuchungsmethode und soziale Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1974 und 1981). Leider hat sich die  Soziologie seinerzeit der kritischen Debatte  entzogen, es gab weder eine schriftliche  noch eine mündliche Auseinandersetzung. Wissenssoziologisch hat das eine, wenn auch unerfreuliche Logik: Die Umfrageforschung, die in den kommenden Jahrzehnten zu einer enormen Blüte und  immer größerer Oberflächlichkeit gereift ist, bietet ihren Akteuren höchst lukrative Einkommensquellen und hat weite Zweige der Soziologie über ihr so gewachsenes Berufsprestige vor angemessenen Selbstreflexionen, geschweige Selbstzweifeln geschützt

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