Eine Sozialreportage aus dem Sommer 2011
von Hartwig Berger
Paterna de Rivera, ein Dorf von heute 5.500 Einwohnern, erreiche ich von Cádiz mit dem Linienbus. Wie vor 38 Jahren, als ich das erste Mal hier für 2 Monate lebte, fährt der Bus zweimal pro Tag und endet weiterhin dort, wo Rufino seine Kneipe betreibt. Er konnte sie 1963 mit Ersparnissen aus Bauarbeit und Gesang eröffnen. Der 72jährige, ein vielfach ausgezeichneter und geehrter Flamenco-Sänger, führt den Laden gemeinsam mit seinem Sohn José, zwei Familien müssen mit seinen Einkünften versorgt werden. Rufino schließt auch heute nicht vor Mitternacht und öffnet früh um 5 Uhr. Das ist die Zeit, in der sich früher viele Landarbeiter vor dem Aufbruch in die Felder einfanden, Kaffee und oft einen Kognak tranken. Wenn sie von den Verwaltern der Latifundien angefragt waren, zogen oft hunderte mit ihren Mopeds aufs Land; oder sie sammelten auf eigene Rechnung Schnecken, Palmgräser, Wildgemüse, die sie an Zwischenhändler verkaufen. Bis in die 80er Jahre konnte man davon in der laufenden Saison die Familie versorgen.
Diese Zeiten sind lange vorbei. Die señoritos – wie man die Großgrundbesitzer allgemein nennt – haben ihre Betriebe voll durchrationalisiert und mechanisiert. Für Dauerarbeiten brauchen sie nur mehr den Verwalter, einige Fahrer für die verschiedenen Maschinen und den zur Behinderung wilder Jagd unverzichtbaren Wächter zu Pferde. Nur noch vereinzelt und zu ganz wenigen Arbeiten wie die Weinernte oder den Gemüseanbau in Bewässerungszonen werden Tagelöhner angefordert, immerhin zu festen Tarifen, die von den Landarbeitergewerkschaften durchgesetzt worden sind. Die Landarbeit auf eigene Rechnung, das „sich das Leben suchen“, wie das hier heißt, kann als selbst vorübergehender Broterwerb kaum mehr betrieben werden. Einer der Wenigen, der von u.a. dem Sammeln von Wildspargel tatsächlich noch, und nicht ärmlich lebte, war „el Trompo“, in seiner freien Zeit ein unermüdlicher Kartenspieler bei Rufino. Doch er ist im vergangenen Jahr gestorben.
Prekäre Arbeit(slosigkeit) im Wandel.
So trifft man bei Rufino in der Frühe kaum noch Landarbeiter. Stark zurückgegangen ist auch die Zahl derer, die in Industriebetrieben in der Bucht von Cádiz beschäftigt sind. „General Motors“ hat vor drei Jahren geschlossen und seinen Betrieb „irgendwohin nach Osteuropa“ verlagert. Unter den etwa 2.000 Beschäftigten, die entlassen wurden, waren auch einige Dutzend Paterneros. Die Werften, einst Vorzeigebetriebe in Spaniens tiefem Süden, können sich seit Jahren nur mit staatlichen Subventionen „über Wasser“ halten und sind deshalb im Visier wettbewerbsrechtlicher Prüfungen der EU-Kommission. Gegenwärtig haben sie kaum Aufträge, stehen teilweise still oder überbrücken mit Kurzarbeit. Schon vor einiger Zeit sind ältere Arbeiter in Frühpension geschickt worden, wobei gewerkschaftliches Engagement, Streiks und Blockaden der neuen Autobrücke nach Cádiz für immerhin akzeptable Rentenbezüge sorgten. Härter trifft es die zahlreichen zeitlich befristet Eingestellten der Werften und der Hilfsfirmen. Sie sind nur für die Dauer der Arbeitsaufgabe eingestellt, stehen nicht unter Kündigungsschutz und beziehen keine oder kaum Abfindungen. Bei ihnen handelt es sich überwiegend um Pendler aus den Landorten der Provinz, wie aus Paterna.
Die drei Söhne von Rafaela Martínez und ein Enkel, der Einzige im arbeitsfähigen Alter, sind so seit einiger Zeit bei Reinigungs- und Malertätigkeit im Schiffsbau beschäftigt. Mit sofortigem Kündigungsrecht, wenn die Arbeit ausgeht. Sie sind damit besser dran als zahllose andere Paterneros, die einst im Bau oder im Schiffsbau beschäftigt waren. Ihr relatives Glück verdanken sie verwandtschaftlichen Beziehungen mit dem Chef einer Zulieferer-Firma. Francisco, Rafaelas ältester Sohn, setzt darauf, hier wenigstens für ein Jahr arbeiten zu können. Erst dann hätte er Anspruch auf Arbeitslosengeld und kann mit etwas Rücklagen, die er hat, an seinem noch unfertigen Haus weiter bauen, dessen Grundmauern sein Vater vor 36 Jahren mit Emigrantengeld, verdient bei der Müllabfuhr in Hannover, errichtet hat. Aber er hat Angst vor dieser Zeit und gibt freimütig zu, unter dem Gefühl von Nutzlosigkeit und der Leere eines unausgefüllten Tages zu leiden.
20 Jahre Bauarbeit an der Küste bei Malaga haben Francisco nicht gereicht, um die Rücklagen für die Vollendung seines Heims zusammen zu kriegen. Doch war er vorsichtiger als manche Andere im Ort, die Häuserbau, Autos und/oder Mobiliar auf Kredit finanzierten und die jetzt nicht abbezahlen können. Denn wie Francisco Martínez erging es in Paterna Hunderten: Mit dem Niedergang der Bauwirtschaft wurden sie entlassen, viele bereits im Dauerzustand von einem und mehr Jahren. In den Zeiten des spekulativ angeheizten Booms waren sie im Häuser- und Straßenbau an der Küste tätig, in den Tourismuszentren, auf den Kanarischen Inseln oder in einer der spanischen Großstädte. Ihre Familien sahen sie meist nur zum Wochenende, bei weiteren Entfernungen in größeren Abständen. Jetzt leben sie wieder im Heimatort, doch beschäftigungslos, sofern sie nicht in Eigenarbeit oder in der ebenfalls schrumpfenden grauen Ökonomie aktiv sein können. Gelingt das nicht und ist das inzwischen auf maximal ein halbes Jahr begrenzte Arbeitslosengeld ausgelaufen, müssen sie mit 400 € monatlicher Sozialhilfe auskommen; und auch das nur, sofern sie eine Familie zu ernähren haben. Auch die Bautätigkeit um und aus dem Ort selbst ruht fast vollständig. Die etwa 30 Kleinbetriebe in Paterna sind entweder insolvent oder liegen ohne Beschäftigte einfach still.
Der Niedergang des Bausektors trifft die Menschen im ländlichen Andalusien besonders schwer. Der jahrzehntelange Boom war eine Art wirtschaftliches Auffangnetz für die schwindende Beschäftigung in der Großlandwirtschaft der señoritos – in vielen Orten wie Paterna gibt es nur wenige kleine Landbesitzer. Der zweite große Arbeitsmarkt vor allem in den 60er und 70er Jahren war Westeuropa. In dieser Zeit war aus Paterna jeder zweite bis dritte erwachsene Mann aus Arbeiter- oder ländlichem Kleinbürger-Milieu dort für kürzere, meist für längere Zeit tätig, in der Regel ohne Familiennachzug. Rechnet man die damals angebotene saisonale Landarbeit in Frankreich dazu, dürften es 50-70% zeitweise Wanderarbeiter gewesen sein . Im Unterschied zur weit geringeren Arbeitswanderung innerhalb Spaniens – aus Paterna, wie aus Andalusien insgesamt vorwiegend nach Katalonien – ist die übergroße Mehrheit der westeuropäischen Emigranten in den Heimatort zurückgekehrt. Die meisten von ihnen sind heute im Rentenalter – mit im übrigen befremdlich geringen Bezügen, gerade aus Deutschland, wo die meisten Paterneros als Ungelernte in niedrigen Lohnstufen arbeiteten. Dass die meisten Emigranten-Familien im Ort geblieben sind, ist – neben einer weiterhin überdurchschnittlichen Geburtenquote und Zuzug aus entlegeneren Dörfern – der Grund dafür, das die Einwohnerzahl in 40 Jahren um rund 2.000 Personen zugenommen hat.
Ländliche Lohnarbeit spielt im heutigen Paterna, wie gesagt, nur eine geringe, die Arbeitsemigration nach Westeuropa fast gar keine Rolle. Das, obwohl es im EU-Raum, im Unterschied zu früher, keine Hinderungsgründe mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis gibt. Der Ort Villamartín, wo die Arbeitsbehörde gezielt unter anderem Sprachkurse anbietet, um junge Leute auf Arbeitssuche in Deutschland vorzubereiten, stellt in der Provinz Cádiz bisher eine Ausnahme dar. Zwar könnten sich junge Paterneros in einigen deutschen Städten auf eine Infrastruktur von Ortsnachbarn, inzwischen der zweiten Generation von Emigranten stützen, nehmen das aber nicht wahr. Ein Hinderungsgrund dürfte der verbreitete Mangel an beruflicher Ausbildung sein. Das Risiko, in den im Deutschland staatlich regelrecht geschützten Niedriglohnsektor abzugleiten, ist zu groß.
So zog und zieht es die Männer nach Ende der Arbeitsemigration vor allem in die Baubranche. Manche brachen dafür Schule oder Ausbildung vorzeitig ab, irgendein fachspezifisches Diplom war ja überflüssig; wie zuvor in der Landarbeit reichte eine kurze, oft bereits in Familienarbeit erworbene, Anlernphase aus, um genügend Geld zu verdienen und einen bescheidenen Wohlstand zu erwerben. Die meisten Familie haben sich in den vergangenen Jahren ein Haus bauen können, in teilweiser, manchmal auch gänzlicher Eigenarbeit, auf meist engem Raum und ohne jede Abstandsfläche zu den Nachbarn. Fernsehen, Waschmaschine, Kühlschrank sind seit Jahrzehnten Standard, in jüngerer Zeit auch die Klimaanlage, naheliegend wegen kaum isolierendem Bauzustand und preistreibend durch mit ihr hochschnellendem Stromverbrauch. Die männlichen Erwachsenen jedenfalls der jüngeren Generationen sind fast vollmotorisiert, das Auto hat das einstige Moped ersetzt.
Mit dem Zusammenbruch des Bausektors und dem Fehlen alternativer Lohnarbeit ist Massenarbeitslosigkeit wieder das Stigma des ländlichen Andalusien. Cádiz ist da spanienweit trauriger „Spitzenreiter“, 8 der 10 am meisten landesweit betroffenen Orte befanden sich April 2011 in dieser Provinz. Paterna lag mit 28% registrierten Arbeitslosen spanienweit an dritter Stelle . An „registrierten“, denn die TagelöhnerInnen in der Landarbeit tauchen in den Statistiken nicht auf. In Paterna sind rund 600 Personen in dieser Branche eingetragen; da sie in mindestens 80% der Jahreszeit ohne entsprechende Beschäftigung sind, dürfte die tatsächliche Arbeitslosigkeit in Paterna bei 45% liegen.
Leben ohne Lohnarbeit
Die hohe Zahl der eingetragenen Landarbeiter/innen erklärt sich aus einer Regelung, welche vor mehr als 20 Jahren als Ergebnis erfolgreicher gewerkschaftlicher Kämpfe eingeführt wurde. Die Arbeitslosigkeit auf dem Land war in Andalusien und Extremadura wegen der dortigen Latifundienwirtschaft immer endemisch und verschärfte sich noch mit fortschreitender Mechanisierung. In den ersten Jahren des demokratischen Wandels wurden andauernde Phasen der Beschäftigungslosigkeit durch Gewährung gemeinnütziger Arbeiten kompensiert. Später löste die regierende sozialistische Partei ein Wahlversprechen ein, das ihr in den beiden genannten Regionen lange zu einer stabilen Mehrheit verhalf: Die „Landarbeiterkarte („cartilla agricola“) wurde eingeführt. Wer mit ihr als Landarbeiter/in eingetragen ist, kann seitdem immer dann für 6 Monate (früher sogar für ein Jahr) eine Arbeitslosenhilfe von 400 € monatlich beziehen, wenn er oder sie mindestens 35 Tage lang für Lohn auf dem Land gearbeitet hat.
Die Einführung der „cartilla“ eröffnete vor allem Frauen in Landorten eine bescheidene Einnahmequelle. Juani und Maria-Pilar, beides Schwestern von Francisco Martínez, hatten früher kaum eine Chance, im Ort etwas zu verdienen. Maria-Pilar schlug sich jahrelang mit schlechtbezahlter Haushaltsarbeit in Cádiz durch. Schlechte Erfahrungen in verschiedenen Familien und im Alltag und die Einsamkeit in der Großstadt begünstigten Depressionen. Mit dem Erwerb der „cartilla“ kann sie wieder bei ihren Eltern in Paterna leben, arbeitet für wenige Wochen in großflächigen Gemüsefeldern beim 25 km entfernten Ort Casas Viejas, um den Rest der Monate von der Arbeitslosenhilfe zu leben. In dieser Zeit hilft sie im Haushalt ihrer Mutter, treibt – wie inzwischen viele Frauen – Sport aller Art, bildet sich im Kulturzentrum in Informationstechnik und liest gerne Bücher. Ihre Schwester Juani, seit längerem als nun alleinstehende Mutter geschieden, ergänzt die cartilla, indem sie für Niedriglohn putzen und malern im Ort anbietet. Die Töchter der Familie Fernandez – um ein weiteres Beispiel zu nennen – reisen mit ihren als arbeitslose Bauarbeiter registrierten Brüdern je einmal pro Jahr in die Erdbeerernte der Provinz Huelva und in die Weinernte der weltbekannten Sherry-Trauben bei Jerez und Sanlúcar. Neben anderen kruzfristigen Arbeitsgelegenheiten und plus cartilla reicht das bisher, um ihre Ehe- oder Lebenspartner, die evtl. Kinder und sich durchzubringen. Gelingt es Inhabern der cartilla nicht, die 35 Tage mit der immer spärlicher gesäten Landarbeit offiziell zu summieren, müssen sie versuchen, mit Landbesitzern inoffizielle Deals zu schließen. Zahlungen unter der Hand sind bei diesem aus Not geborenen Schachzug unvermeidlich.
Die Folgen der hohen Arbeitslosigkeit werden von der seit jeher stark verbreiteten informellen Ökonomie etwas abgefedert. Die Bewirtschaftung von Gärten zum Eigenbedarf hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Manchmal werden sie auf von Kleinbauern gepachtetem Land angelegt, vorzugsweise, da kostenfrei, aber am Rand von Straßen und Wegen, das Gemeindeland früherer Viehtriften nutzend. Material wie ausrangierte Bretter und Plastikplanen dienen als Außenschutz. Oft ergänzt sich das mit der Haltung von Hühnern, Puten oder Ziegen. Juan Orihuela z.B., in unsicherer Zeitarbeit bei Cádiz, und seine Frau nutzen ein Terrain an der Straße, um eine vielleicht 100köpfige Ziegenherde unterzubringen. Andere haben sich auf die Aufzucht von Welpen aus einer wertvollen Rasse von Jagdhunden spezialisiert, um sie an Interessenten in- wie außerhalb Paternas zu verkaufen. Manchmal werden die Flachdächer der Wohnhäuser zur Zucht von Legehennen genutzt, oder für Rothühner – ein in Südwesteuropa verbreitetes Feldhuhn. Die dressierten Exemplare werden als Lockvögel ausgesetzt, um ihre wilden Artgenossen vor die Flinte von Hobbyjägern zu bringen. Überall werden Marder zur Kaninchenjagd gezogen, denn die Jagd ist in Paterna nicht nur ein traditionell beliebtes Männervergnügen, sondern vielfach ein ergänzender Unterhalt. Der Handel mit Kaninchen floriert auch dann, wenn die Jagdsaison nicht offiziell eröffnet ist. Die Umstände sind allerdings erschwert. Fernando Aguilar, schon lange pensioniert, hat noch ausschließlich davon leben können, dass er nach der herkömmlichen Regel „a medias“ – die Hälfte geht an den Landeigentümer – Kaninchen fing. Jedes Gut im Orts-Umkreis hatte damals mindestens einen Kaninchenjäger angestellt. Heute ist es finanziell attraktiver, das Jagdrecht an wohlhabende Angereiste zu vergeben. Außerdem hat die großflächige Landwirtschaft die mit Maquis bewachsenen Restflächen deutlich verringert.
Wind der Zukunft?
Gibt es für einen Ort wie Paterna Alternativen zur Minderung der Massenarbeitslosigkeit? Die Partido Popular (PP) kündigt an, dass sie nach einer Machtübernahme landesweit wieder ein nahezu unbeschränktes Baurecht in Geltung setzt, dass von der PSOE-Regierung unter strengere Kriterien gestellt worden ist. Die PP will mit einer Neubelebung der wilden Spekulation der darniederliegenden Branche neue Impulse geben. Sie setzt damit auf den Gewinn von Wählerstimmen auch und gerade unter Bauarbeitern. Inhaltlich wäre das die Wiederholung einer bereits verlustreich gescheiterten Wirtschaftspolitik. Andalusien braucht vielmehr den Aufbau eines vielfältigen Gewerbes mit Zukunftsperspektiven. Vor einigen Jahrzehnten wurde in Paterna viel darüber diskutiert, dass es erforderlich sei, Fabriken hierher aufs Land zu ziehen, statt sie in urbanen Zentren zu ballen und die hier lebenden Menschen zur Arbeitsemigration zu zwingen. Ernsthafte Versuche von Gewerbeansiedlung hat das örtliche Rathaus, trotz günstiger Verkehrsanbindungen, jedoch nicht unternommen. Erst und ausgerechnet im zeitlichen Beginn der Krise wurde ein „polígono industrial“ begonnen, der sich bisher durch asphaltierte Wege und ansonsten vollständige Leere auszeichnet. Nur wenig entfernt davon drehen sich allerdings Maschinen, die gerade hier, in starkwindiger Atlantiknähe eine große Zukunft haben: Paterna ist in drei Himmelsrichtungen von etwa 70 Windkraftanlagen umkreist, welche der in Nordspanien angesiedelte Energiekonzern Iberdrola errichtet hat. Allerdings stützte und stützt Iberdrola sich überwiegend auf eigenes, angereistes Personal und nur wenige Arbeiter aus dem Ort für Fundament und Masten eingesetzt.
Gleichwohl wäre der Sektor der solaren Energien eine Perspektive gerade für junge Menschen aus der ländlichen Arbeiterschaft. Vor allem Südspanien verfügt über enorme Potentiale für Wind und Sonnenkraft, deren Erschließung erst in den Anfängen steckt. Ebenso wird gerade der äußerste Süden binnen weniger Jahre ein Schwerpunkt für den Bau weiträumiger Stromtransporte zwischen Europa und Nordafrika sein: Die Meerenge von Gibraltar ist die mit Abstand günstigste Stelle, um die solare und äolische Stromerzeugung des nördlichen wie des südlichen Mittelmeerraums miteinander zu vernetzen. Bei gezielter Politik ließe sich in Andalusien auch entsprechendes produzierendes Gewerbe ansiedeln. So will die Werft AESA bei Cádiz jetzt in den Bau von offshore-Anlagen einsteigen, der fast nahtlos in die Technik des Schiffsbau integrierbar ist. Jedoch hat die spanische Regierung bisher keine Regelungen zur Zulassung von offshore erlassen. Sie kommt damit den kurzsichtigen Interessen der Tourismus- und Baubranche entgegen, die in den für Windkraft idealen Küstenzonen der Provinzen Cádiz und Huelva solche Anlagen bisher verhindern konnten.
Die in ihrer Mehrheit arbeitslose Jugend Paternas bedarf beruflicher Weiterbildung, um in der wich wandelnden Wirtschaftswelt Zukunftschancen zu haben. Man kann der spanischen Arbeitsförderung nicht vorwerfen, dass sie hier keine Angebote macht. In Paterna werden zur Zeit in einem eigens errichteten Fortbildungszentrum mehrere Kurse mit verschiedenen Schwerpunkten angeboten. Obwohl kostenfrei, sind sie wenig und insbesondere kaum von jungen Männern besucht. Ein zweifellos perspektivenreicher Kurs in Elektrotechnik musste in einem – nach halbstündiger Fahrt erreichbaren – Nachbarort mangels Teilnahme geschlossen werden. In Fragen der Arbeitsvorbereitung überwiegt in weiten Kreisen eine Haltung des Abwartens und Nichtstuns.
Familie und öffentliches Leben.
Die prekären Lebensumstände haben die Familienbeziehungen stabilisiert. In der Kernfamilie trägt jede/r mit seinen Einkünften zum gemeinsamen Unterhalt bei. Auch in der weiteren Verwandtschaft hilft man sich. So gilt weiterhin die Regel, eine sich ergebende Arbeitsgelegenheit zunächst den näheren Verwandten anzubieten. Junge Leute leben, auch wenn längst erwachsen, überwiegend weiter im Elternhaus. Haben sie einen Freund oder Freundin, zieht diese/r häufig mit ein. Noch in den 70er Jahren waren außereheliche sexuelle Beziehungen bei vielen Menschen tabu, die heute umstandslos und ohne moralische Vorbehalte die Liberalisierung der Geschlechterbeziehungen akzeptieren. Allerdings verfestigt sich auch die traditionelle Geschlechterrolle in Hausarbeit und Erziehung. Da die übergroße Mehrheit der Frauen kaum bis keine Aussicht auf selbst befristete Lohnarbeit hat, bleibt sie weiterhin an Küche und Kinderbetreuung gebunden. Immerhin ist die Gefahr der Vereinsamung nicht gegeben, da verwandte Frauen sich häufig, oft täglich besuchen. Insbesondere die Beziehung der Mütter zu ihren verheirateten Töchtern ist intensiv und eng. Maria Jiménez kann täglich mit einem Besuch von zwei Töchtern rechnen, wobei die dritte und jüngste im selben Haus lebt.
Das öffentliche Leben im Ort hat im Vergleich zu früheren Jahren an Farbe und Intensität verloren. Das ist teils Folge eines veränderten Lebensstils: Immer mehr Menschen halten sich, wenn sie im Ort sind und nicht zu tun haben, überwiegend zu Hause auf – und zumeist, anders als früher, ohne die einladende offene Haustür. Das Wochenende wird im Sommer gerne zu Strandausflügen genutzt, und den örtliche „paseo“, das abendliche Promenieren mit Partnerschau an Wochenende, ersetzen viele Jugendliche durch einen Ausflug in Kino, Discos, Parties und den paseo größerer Städte. Autos sind dafür zur Genüge verfügbar. Die Zahl der Kneipen hat in Paterna zwar nicht abgenommen, doch klagen die Wirte über einen deutlichen Besucher- und Einnahmerückgang. Jüngere Männer gehen, um zu sparen, weniger auf die Straße oder an die Theke, nur viele der Älteren sind weiterhin der Regel treu, dass ein Mann, der nichts zu tun hat, wenn er nicht schläft, sich in der Öffentlichkeit blicken lässt. So trifft man die früheren Land- und Bauarbeiter vorzugsweise in zwei Seniorenzentren beim Kartenspiel oder in geselligen Gruppen an schattigen Plätzen und Straßenecken.
Dass Andalusier öffentliche Feste zu feiern wissen, ist bekannt und gilt auch für Paterna. Feria, Romería, Semana Santa, Weihnachten auf den Straßen und der Karneval erfreuen sich weiterhin eines starken Zuspruchs. Regional bekannt und beliebt ist der öffentliche Auflauf um Stiere, die am Ostersamstag und zur Feria mit den üblichen Torero- und Mutproben durch Ortsstraßen getrieben werden. Ein Pamplona-Spektakel im kleinen, hier dadurch begünstigt, dass eine aus Paterna stammende Großgrundbesitzer-Familie Stierzucht auf großflächigen Weiden betreibt. Der Ort hat zwei im Ligawettbewerb spielende Fußballvereine, vor allem aber seit 25 Jahren einen selbstverwalteten Kulturverein mit dem hübschen Namen „el Alcaucil“, eines beliebten stachligen Wildgemüses. In bisher mehr als 50 Ausgaben gibt er eine eigene Zeitschrift heraus. In ihr erscheinen Beiträge zur Geschichte, zu Persönlichkeiten und der Alltagskultur im Ort, ergänzt um Gedichte, Essays und durchaus philosophischen Betrachtungen. Es schreiben normale Ortsbewohner mit einfacher oder auch gar keiner Berufsausbildung. Sie haben auch vom Verein edierte Bücher verfasst, etwa über die lokale Kochkunst oder die Lebensgeschichte eines hiesigen Flamencosängers. Man bemüht sich um die Erhaltung herkömmlicher Baustile – wie der maurischen Dächer – oder alter Werkzeuge aus Handwerk und Landarbeit und engagiert sich in der Pflege und Verbreitung von Flamenco-Gesang und Tanz. Der Verein hat über 200 Mitglieder und vor wenigen Jahren in Selbsthilfe und mit EU-Geldern ein eigenes Zentrum errichtet.
Seit über 20 Jahren ist das Rathaus von Paterna, nicht untypisch für Andalusien, eine Domäne der Sozialisten, des PSOE. Bis zur letzten Kommunalwahl, im Mai 2011, war die rechte Partido Popular hier praktisch nicht präsent.
Bei den Älteren, in Erinnerung an die Grausamkeiten der Nationalisten im Bürgerkrieg und die späteren Hungerjahre unter der Diktatur, hatte diese Partei ohnehin keine Chance. Die Bürgermeister und ihr Team bemühten sich insbesondere darum, dem bis in die 80er Jahre dörflichen, baumlosen und auch sonst kaum ausgestatten Landarbeiterort eine urbane Gestaltung zu geben. Plätze, Promenaden und Spielplätze wurden angelegt, Bäume gepflanzt und überall Straßenbeleuchtung geschaffen. Zentren für berufliche und sonstige Fortbildung wurden errichtet, Gedenktafeln und Monumente, kulturelle wie sportliche Aktivitäten aller Art gefördert. Hochfliegende Pläne in der Tourismuswirtschaft sind bisher trotz der Immobilienblase nicht aufgegeben worden: Mitten in der Landschaft soll ein Golfgelände mit Hotelkomplex, Feriensiedlung und künstlichen Seen zum Baden und Promenieren entstehen; dies in einem Gebiet mit nur vereinzelten wasserarmen, zeitweise gänzlich ausgetrockneten Bächen. Die kommunale Verschuldung von mehreren Millionen Euro ist erheblich und nur im andalusischen Vergleich „erträglich“. Die benachbarte Stadt Jerez de la Frontera kann dagegen mit fast 900 Mio € Schulden und Zahlungsunfähigkeit in der Begleichung der anfallenden Zinsen aufwarten. Zugleich leistet sich die Stadt bei 150.000 Einwohnern ein Heer von 2.000 Angestellten, wobei zahlreiche leitende Posten nachweislich erheblich höhere Bezüge als zulässig erhalten. Der politischen Fairness halber sei angemerkt, dass die wohl 30jährige Vettern- und Misswirtschaft von einer Rathausmehrheit wechselnd zwischen Sozialisten und andalusischen Regionalisten zu verantworten ist. Sie wurde jetzt von der neu gewählten Bürgermeisterin der PP aufgedeckt und angeprangert.
Abwendung von der Politik
Wie reagieren die Menschen in Paterna auf die Krise, die sozialen Kürzungen und die Massenarbeitslosigkeit? Gegenwärtig in einer Mischung aus Passivität, Resignation und Verbitterung. „Wir sind maßlos enttäuscht von Zapatero und von ihm und seinen Leuten betrogen worden“, so der ehemalige Landarbeiter José Guerrero. „Er hat bei den Armen gekürzt und die Reichen ungeschoren gelassen. Unsere Renten hat er gekürzt. Ich kann davon mit meiner Frau gerade noch leben, aber meine 5 Söhne kann ich nicht unterstützen. Sie sind jetzt sämtlich arbeitslos und wissen nicht, wie sie ihre Familie durchbringen sollen. – Ob ich wählen gehe? Das bringt doch nichts. Jedenfalls nicht die Sozialisten, und auf keinen Fall Rajoy und seine Partei( die PP), schließlich habe ich noch die Zeit von Franco erlebt, als die an der Macht waren“.
Ganz überwiegend wird die politische Klasse für unfähig und für korrupt gehalten, wobei für letzteres gerade aus Andalusien mehr als genug Beispiele angeführt werden können. „Du hast doch gelesen, was die in Jerez mit dem Rathaus angestellt haben. Oder in El Puerto de Santa Maria. Der alte Bürgermeister steht jetzt schon das zweite Mal vor Gericht, weil er und seine Kumpanen reihenweise Geld für Baugenehmigungen in die Tasche gesteckt haben“, so Valerio Soriano, Angestellter und immerhin berufstätig.
Massive Enttäuschung und Kritik an der Politik führt bisher nicht zu offen geäußertem Protest. Auch bei den Kommunalwahlen konnte sich die PSOE in Paterna eine zwar knappe Mehrheit sichern, die kapitalismuskritische „Vereinigte Linke“ legte – wie in Andalusien insgesamt – nur geringfügig zu. Erfreuliche Ausnahme war im Juni eine öffentliche Versammlung von jungen Leuten, im Stil der „Indignados“-Bewegung, die am 15. Mai in Madrid ihren Anfang nahm. Ob sich das fortsetzt, muss sich zeigen. Noch in den 80er Jahren hatten die drei Gewerkschaften CCOO, UGT und SOC je einen Laden in Paterna als Anlaufpunkt. Sie sind inzwischen sämtlich geschlossen. Versammlungen und Protestmärsche wie damals, die sich an der Arbeitslosigkeit auf dem Land entzündeten, bleiben heute aus. Allerdings eignet sich der Bausektor wenig für Protest, wenn die Firmen weit weg und vielfach in Insolvenz , die Entlassenen aber in den Heimatort zurückgekehrt sind. Die Werftarbeiter an der Bucht von Cádiz waren jahrelang in Arbeitskämpfen engagiert und haben damit Lohnzuwächse und soziale Sicherungen durchgesetzt. An diesen Aktivitäten waren Arbeiter aus Paterna immer beteiligt, doch eben außerhalb des Orts.
Bleibt die Landarbeit und ihre hoffnungslose Perspektive. Im Verhältnis gerade von Menschen mit Eigenerfahrung auf dem Land zeigt sich heute ein krasser Widerspruch. „Die Arbeit auf dem Land war einfach das Letzte. Wir haben uns zu Tode geschuftet, wurden geschunden wie Vieh, ohne dass der Lohn reichte. Man hatte Lust, die señoritos umzubringen, so haben sie uns das Blut aus den Adern gequetscht“, so vor ein paar Jahren der inzwischen verstorbene Francisco, genannt auch „el Niño de la Cava“ – und doch besang er in vielen Liedern die Schönheiten der Landarbeit und die Sehnsucht nach der vergangenen Zeit. Er ist nicht der Einzige mit dieser Nostalgie. Auch Rufino singt mir am Abend, bevor ich Paterna wieder mit dem Linienbus verlasse, aus seinen Liedern über die Landarbeit vor. Er hat sie ja noch erlebt. Und der erwähnte Kulturverein erarbeitet gerade eine Art Opera Buffa, in der Theater und Flamenco-Gesang einander abwechseln. Auch hier ist das Leben früher auf dem Land Thema, mit seinen Licht- wie mit seinen Schattenseiten.