Jugend ohne Zukunft?

Jugendarbeitslosigkeit in einer südeuropäischen Region

von Hartwig Berger

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Miguel reicht es jetzt. “Basta ya, ich komme mit nach Berlin und mache die Ausbildung, die ihr dort anbietet. Was soll ich hier noch? Seit drei Jahren hänge ich ohne Job rum. Ich kann doch nicht davon leben, galgos (Rassehunde für die Jagd und für Hunderennen) aufzuziehen und zu verkaufen. Und vom Schneckensammeln, wie einst mein Großvater, erst recht nicht.“. Miguel lebt bei seinen Eltern und erhält keinerlei staatliche Unterstützung. Den meisten jungen Leute unter 30 Jahren geht das hier so, wenn sie nicht verheiratet sind. Und selbst manche Paare müssen in dieser und in anderen Regionen des Landes noch bei den Eltern wohnen.

Miguel wird die staatlich finanzierte Ausbildung zum Anlagenmechaniker in Berlin, die man derzeit jungen Arbeitslosen in einigen Orten der Provinz Cádiz anbietet , nicht antreten können. Einige Voraussetzungen erfüllt er nicht, so ist er um ein Jahr zu alt. Die Eltern sind darob sichtlich erleichtert, sie trauen ihrem Sohn den Wechsel in die Ferne nicht zu. Oder besser: Sie haben Angst davor. Die enge Familienbindung, durch Dauerarbeitslosigkeit verstärkt, wirkt als Fessel. Miguel behauptet verzweifelt, doch jünger zu sein und kapituliert erst, als die Eltern seinen Personalausweises vorführen.

Anders liegen die Dinge bei José Ramos, einem Cousin von Miguel. Er ist nicht zu alt und vor allem: die Familie redet ihm zu „ Vorwärts, das machst du und das schaffst du, Pepe, hier in der Gegend hast du doch keine Zukunft“, ermutigt ihn sein Großvater, der vor 50 Jahren in Deutschland gearbeitet hat, sieben Jahre insgesamt, in Wohnheimen und fern von Frau und Kindern untergebracht. So wie er sehen das viele Eltern und Großeltern. Zwar ist die Ausbildung in Berlin mit 3 ½ Jahren recht lang und nur bescheiden entlohnt. Dennoch ist das Interesse in dieser von Massenarbeitslosigkeit geschlagenen Gegend sehr groß. Viele junge Frauen und Männer wollen weg, so sehr sie am vertrauten Leben hier hängen. Und – viele Ältere unterstützen sie, wenn auch oft mit gemischten Gefühlen. Schließlich waren es keineswegs nur gute Erfahrungen, von der die frühere Generation von Emigranten zu berichten wusste und weiß – mindestens jeder zweite Mann aus der Arbeiterklasse hat seinerzeit einige Jahre im Ausland gearbeitet . „Die Mütter leiden, wenn ihre Kinder jetzt fortgehen. Aber sie leiden noch mehr, wenn sie sehen, wie frustriert sie hier herumsitzen“, so beschreibt das Maria Pilar, die die jungen Leute vor Ort bei den Bewerbungen nach Berlin berät.

José hat vieles versucht, um in seiner Heimat Arbeit und Auskommen zu finden. Nach dem Realschulabschluss hat er zwei jeweils mehrjährige Berufsausbildungen absolviert, im naturkundlichen Sporttourismus und in Verwaltungskunde. Das erbrachte nur sporadisch und kurzfristig Jobs, als Jugendbetreuer, als Monitor in einem Naturkundezentrum oder als Hilfskraft im Baugewerbe. Selbst seine Aktivitäten als Mitbegründer eines örtlichen Jugend-Selbsthilfevereins brachten ihn nicht weiter. Wohl oder übel muss der junge Mann sich von den Eltern aushalten lassen, schwierig genug, seitdem der Vater die ohnehin nur befristete Arbeit in den 40 km entfernten Werften verloren hat – wie übrigens fast alle früheren Werftarbeiter aus dem Ort.

Der Ort, nennen wir ihn Campiñera, ist eine Kleinstadt, die im Juli 2013 Schauplatz einer halbstündigen Sendung im Regionalfernsehen war . Diese stellte die ländliche Gemeinde als traurigen Rekordhalter in der ohnehin von Arbeitslosigkeit geschüttelten Provinz Cádiz (mehr als 40% laut Statistik) dar. Die Sendung bezifferte die Jugendarbeitslosigkeit in Campiñera mit 70% – und lag damit eher zu niedrig: Im Sommer waren 1.350 der 5.600 Bewohner als arbeitslos registriert. Nicht mitgerechnet sind dabei mehrere hundert Frauen und Männer, die sich als Gelegenheitsarbeiter auf dem Land eingeschrieben haben. Sie erhalten für 6 Monate eine Hilfe von 426 € , sofern sie im vergangenen Halbjahr 30 Tage lang eine Arbeit auf dem Land hatten. Angesichts der Voll-Mechanisierung der umliegenden Großgüter ist das in der Regel nicht erreichbar und wird dann oft so „gemanagt“, dass die Landarbeiter – pro forma eingestellt – ihren Arbeitsverdienst zurückzahlen, um zumindest den Anspruch auf ein halbes Jahr Sozialhilfe zu erhalten.

Rechnen wir also mit einer Gesamtarbeitslosigkeit von über 50%, wobei rund die Hälfte sich irgendwie, nach Möglichkeit auf dem grauen Markt, durchschlagen muss, denn sie erhalten weder Arbeitslosengeld noch die Arbeitslosenhilfe von 426 €. Da die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien um fast das Doppelte (52%) die Gesamtquote (27%) übertrifft, wären das in Campiñera mindestens drei Viertel aus der Altersgruppe von 18-25 Jahren, wobei die nicht Arbeitslosen häufig in Zusatzausbildungen ohne Hoffnung auf einen Anschlussjob „kampieren“. In den Nachbarorten von Campiñera, wie in der ganzen Region, ist die Lage nicht viel besser.

Prekäre Lebensumstände

Statt von „Arbeitslosigkeit“ ist es zutreffender, von einer Situation geprägt durch prekäre, diskontinuierliche und vor allem nur sporadische Arbeit zu sprechen. Arbeit zu Bedingungen, die sich für die nur hin und wieder Arbeitenden immer ungünstiger gestalten. In Regionen, die hohe Quoten an Beschäftigungslosigkeit ausweisen, entwickeln sich in wachsendem Maße Grauzonen von meist schlecht bezahlter Arbeit und anderen Überlebensstrategien. Prekäres und ungesichertes Einkommen wird zur Regel und immer mehr Menschen geraten in einen Teufelskreis fortschreitender Verarmung.

Im ländlichen Andalusien war schon früher prekäre Arbeit ein Dauerzustand, im übrigen vor 1936 ein starker Mobilisierungsfaktor für die anarchosyndikalistische Bewegung in den großagrarisch geprägten Gebieten, in der Zeit vor dem Putsch und den Massenmorden der Faschisten. In den Jahrzehnten danach boten Landwirtschaft, Baugewerbe und ein seit den 70er Jahren wachsender Sektor privater Dienstleistungen meist nur vorübergehend Arbeit. Mit dem Wirtschaftsboom Spaniens, der mit dem EU-Beitritt 1986 einsetzte, konnten die meisten Familien von den wachsenden Angeboten und steigenden Löhnen besser leben, ohne allerdings auf dauerhaft gesicherte Einkommensquellen rechnen zu können. So traf die mit dem Zusammenbruch des Immobiliensektors und der Kapitalspekulationen seit 2007 einsetzende Wirtschaftskrise die Regionen, deren Einwohner überwiegend von prekärer Arbeit leben, besonders schwer und nachhaltig. Die hohe Arbeitslosigkeit gerade in Andalusien findet hierin eine Erklärung. „ Wir sind hier um über 40 Jahre zurückgeworfen, nur dass es noch weniger Arbeit gibt als damals und dass es schwieriger geworden ist, wie damals als Lohnarbeiter in die Fabriken Westeuropas zu gehen“, sagen ältere Menschen, die den Wechsel der Zeiten durchlebt und durchlitten haben.

Was bedeutet die chronische Prekarität für die jungen Arbeitslosen von heute? Es gibt zahllose Versuche sich durchzuschlagen, kaum welche sind von Erfolg gekrönt . Ein paar Beispiele:

Jorge, 22 Jahre alt, hat nach Realschule und Ausbildung als Elektroinstallateur sein erworbenes Wissen nur gelegentlich in Diskotheken oder auf Festen einsetzen können, ansonsten hat er, „natürlich“ ohne Vertrag, hin und wieder im Bau oder in einer Bäckerei entfernt Verwandter gearbeitet. Carola, 24 Jahre, hat eine zweijährige Ausbildung in Forstarbeiten aller Art vorzuweisen, verdiente aber bisher nur mal ein Jahr lang als Verkäuferin in einem Obstladen, als Kellnerin oder bei Putzarbeiten. Antonio hat seine Ausbildung als Ingenieur abbrechen müssen, als die staatliche Gewährung von Stipendien aus Einsparungsgründen beschränkt wurde und die Familie das Studium nicht bezahlen konnte. Jetzt schlägt er sich mit dem Austragen von hausgelieferter Pizza durch. Rafaela hat als Friseurin gelernt und dem noch einen Kursus als Ausbilderin für den Frisierberuf angeschlossen. Zur Gründung eines Frisierladens fehlt der Familie des Geld und der nötige Zulauf an Kunden. Ab und zu arbeitet Rafaela privat, wegen des Überangebots im Ort für 3 € pro Frisur. Seit April allerdings ist sie Serviermädchen in einem gut besuchten Restaurant an der Autobahn, mit einer 60 Std. Woche und 800 € Monatsverdienst, voraussichtlich nur bis zum Ende der Touristensaison. Da offiziell als „Lehrling“ geführt, kann die Lohnabspeisung sogar als „rechtmäßig“ durchgehen. Zahlreiche weitere Beispiele könnten angeführt werden.

Vielfach werden Arbeiter um den größten Teil ihres Lohns betrogen, indem der Patron sie offiziell in Teilzeit einstellt und so bezahlt, de facto jedoch zu ganztägiger Arbeit und zu Zusatzstunden anhält. Wer das nicht mitmacht oder gar protestiert, wird durch andere Arbeitsuchende ersetzt. Die Gewerkschaften – vor allem die sozialdemokratische UGT und die weiter links stehenden CC.OO (Comisiones Obreras, Arbeiterkommissionen)- sind als Kontrollorgane dieses weit verbreiteten Betrugssystems zu schwach. Ihre Mitglieder rekrutieren sie fast nur aus dem immer schmaler werdenden Kreis der Festangestellten. Und sie stehen gerade in der auf prekäre Arbeit angewiesenen Bevölkerung zumeist in einem schlechten Ruf. Nach einer landesweiten Umfrage bescheinigten lediglich 6% der Befragten, Vertrauen in die Arbeit der Gewerkschaften zu haben . In Campiñera stehen sie vielfach im Verdacht, sich deshalb unzureichend für die (zumeist Nicht-)Arbeiter/innen zu engagieren, weil sie durch die in Spanien vorgesehenen staatlichen Finanzzuwendungen eingekauft sind. In Andalusien kommt der Verdacht und Vorwurf hinzu, mit in einen millionenschweren Skandal um Misswirtschaft und Korruption in der Arbeitsverwaltung verwickelt zu sein. „If men define situations as real, they are real in their consequences“, wie man das in der Soziologie formuliert: Mangelnde Schlagkraft der etablierten Gewerkschaften ist die Folge.

Armut

Eine sich ausbreitende Verarmung ist überall unverkennbar, obwohl sich die meisten betroffenen Familien, schon aus dem in Andalusien sehr ausgeprägten persönlichen Ehrgefühl, bemühen, das nicht nach außen zu zeigen. Immer mehr Familien sind auf die Angebote von Nahrungsmitteln durch Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen. Immerhin haben u.a. öffentlichkeitswirksame Aktionen der Landarbeitergewerkschaft SAT (Sindicato Andaluz de Trabajadores) seit 2012 dazu geführt, dass inzwischen mehr Supermarktketten von ihren Beständen für die „Nahrungsmittelbänke“ abzweigen. Viele Haushalte können, bei stark steigenden Strom- und Wasserpreisen in den letzten Jahren, ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. In den meisten Fällen werden sie abgeschaltet und die Leute behelfen sich vielfach, indem sie Strom und Wasser von Verwandten und Freunden aus der Nachbarschaft beziehen. Sie müssen dann wenigstens die aufgelaufenen Rückstände nicht zahlen. Und sofern sie mit Krediten belastet sind, droht aufgrund einer extrem bankenfreundlichen Gesetzgebung die Zwangsräumung. Inzwischen haben in Spanien weit mehr als 400.000 Familien so ihre Wohnung verloren . Die linke Regierung Andalusiens will seit Frühjahr 2013 diesem Missstand durch eine intelligent ausgetüftelte Sonderregelung ein Ende setzen, doch die rechte Regierung Spaniens ist ihr, leider sekundiert von der Europäischen Kommission, im Juli 2013 „erfolgreich“ in die Parade gefahren. Während die milliardenschwere, durch Spekulation, Filz und Korruption verursachte Verschuldung der Banken mit Geld und Garantien der Steuerzahler gestützt wird, gibt man diesen weiter freie Bahn dafür, Familien, die, weil verarmt, in die Schuldenfalle geraten, aus ihren Wohnungen zu vertreiben.

Dauerhaft abgehängt?

Die oben geschilderten Beispiele für Jugendarbeitslosigkeit sind in einem günstigen Sinn selektiv, sie beziehen sich auf Jugendliche, die bereits Ausbildungsanläufe gemacht haben Auch in den ehemals ländlich geprägten Gebieten Spaniens hat sich der Ausbildungsstand in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark verbessert. Junge Leute können heute vielfach anspruchsvolle Qualifikationen vorweisen, auch wenn diese ihnen in der Regel nicht weiterhelfen. Es gibt aber weiterhin eine breite Schicht von Männern und Frauen im jungen wie vor allem im mittleren Alter, die nur eine schulische Grundausbildung vorweisen können, oder diese sogar vorzeitig abgebrochen haben. Die Zahl der Schulabbrüche liegt in Spanien, vor allem in Andalusien, weit über dem EU-Durchschnitt. Zumindest in der hier betrachteten Region ist die vorübergehend günstige Wirtschaftslage von etwa 1990 bis 2007 dafür ein „Treiber“ gewesen. Warum sich den Mühen einer nicht oder schlecht bezahlten Ausbildung unterwerfen, wenn insbesondere der Bau und manchmal der Dienstleistungssektor mit schnellem Geld lockte? Aus den Erfahrungen im Arbeitermilieu war man und frau ohnehin darauf eingestellt, dass eine Arbeit eher der Ausnahmefall ist. Es galt also, sich bietende Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.

Die Perspektiven dieser in Andalusien zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeiter ohne formale Qualifikationen sind gegenwärtig besonders düster. Wie können sie in Lohn und Brot gebracht werden, da die klassischen Felder von Land- und Bauarbeit heute wie zukünftig kaum mehr Beschäftigung und eine Abwanderung als ungelernte Kräfte in die Industrie, wie seinerzeit mit der Arbeitsemigration, auch keine Perspektive mehr ist? Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten werden sich einiges einfallen lassen müssen, um zu verhindern, dass diese Menschen – übrigens in allen Regionen der Gemeinschaft – nicht dauerhaft abgehängt werden .

Dazu einige Vorschläge:

  • Die Agrarzonen Südeuropas sind stark von den Folgen des Klimawandels betroffen, verstärkt noch durch eine rücksichtslos betriebene Landwirtschaft. Die Böden durch Baum- und Strauchbewuchs, ökologische Schutzzonen und ggf. Agroforesterie (Wald-Landwirtschaft) zu sichern, ist daher nicht nur notwendig, sondern wäre zugleich ein umfassendes Beschäftigungsprogramm. An der Finanzierung wären die agrarischen Großbetriebe, als Hauptverantwortliche drohender Desertifikationen, zu beteiligen. Ergänzen ließe sich das mit umfassenden und ökologisch durchdachten Wiederaufforstungsprogrammen in degradierten Zonen.
  • Auch und gerade in Südeuropa ist die Energieffizienz an und in Gebäuden sehr verbesserungsfähig . Ein EU-weites Programm wäre einerseits im Sinne des Klimaschutzes geboten, gleichzeitig wiederum ein langfristig wirkendes Beschäftigungsprogramm. So hat die Fundación Laboral de Construcción (Stiftung für Arbeit im Bau) im Auftrag der EU in und für Spanien errechnet, dass zusätzlich 166.000-600.000 Menschen Beschäftigung fänden, würde man durch ein entsprechendes Förder- und Kreditprogramm bis 2020 den gebäudebezogenen Energieverbrauch um 20% verringern .
  • Sofern die ergänzenden Einspeise- und Bezugsbedingungen für Strom kundenfreundlich gestaltet werden, ist in allen südeuropäischen Regionen inzwischen die Eigenversorgung mit Solarstrom deutlich rentabler als der Strombezug aus dem Netz. Mit günstigen Mikrokrediten und einer entsprechenden europaweiten Kampagne ist es möglich und sinnvoll, Selbsthilfeaktionen gerade unter den einkommensschwachen Haushalten zu initiieren, die diese zu solaren Selbstversorgern bei günstigen finanziellen Bedingungen macht. Die Selbsthilfekampagne könnte zugleich ein wirkungsvolles Beschäftigungsprogramm sein.

In allen genannten Bereichen können Arbeitslose ohne Berufsqualifikation auch deshalb Berücksichtigung finden, weil sie in aller Regel Fertigkeiten in den hier gefragten Land- und Bau-Tätigkeiten vorweisen können – zumindest gilt das für die hier betrachtete Region.

Widerstand im Wartestand

Wie steht es angesichts der deprimierenden Sozialsituation um Protest und Widerstand? „Eigentlich muss es hier, wie in ganz Spanien täglich Massenproteste, Besetzungen, Barrikaden geben, zu Zehn- und Hunderttausenden“, wie das ein älterer Aktiver der spanischen Linkspartei formuliert. Aber auch seiner Partei traut man, trotz Aufwind in den Meinungsumfragen, in der Region um Cádiz nicht allzu viel zu. Wenn die von ihnen gestellten Bürgermeister, wie in einigen Orten der Provinz, anerkannt gute Arbeit leisten, wird ihnen das als persönliches Verdienst zugerechnet, weniger ihrer parteipolitischen Bindung. Überhaupt stehen Parteien, die der Korruption überführte regierende Partido Popular ohnehin, überwiegend in durchaus schlechtem Ruf. Bestechlichkeit, Filz und Handeln im Eigeninteresse wird PolitikerInnen in der Regel von vornherein unterstellt. Andererseits ist die Bevölkerung in Andalusien bisher nicht anfällig für rechtspopulistische Strömungen. Vielleicht, weil bis heute das Trauma der Verbrechen mit und unter dem Franquismus nachwirkt. Auch die EU ist, trotz ihrer einseitigen Ausrichtung auf „Austerizid“-Politik, bisher nicht in Verruf geraten – noch nicht.

Führt andauernde Massenarbeitslosigkeit zu Resignation und Depression, lähmt sie eher überfälligen Protest, statt ihn zu befördern? Paul Lazarsfeld konstatierte das mit seiner in der Soziologie wegweisenden Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“, um 1930 in einer österreichischen Kleinstadt durchgeführt. Ein oberflächlicher Blick etwa auf heutige andalusische Kleinstädte scheint das zu bestätigen. Die intensiven und munteren Kommunikationsstrukturen, die das Alltagsleben dort noch vor 30-40 Jahren prägten, fehlen heute weitgehend. Ein wachsender Rückzug in die eigenen vier Wände ist unverkennbar, zumal auch die schwindenden Einkünfte Möglichkeiten des öffentlichen Konsums und der damit gepaarten öffentlichen Kommunikation etwa in Kneipen und Restaurants beschränken. Dennoch gibt es, wie in den meisten Kleinstädten, auch in Campiñera einen zumindest sporadisch aktiven Kreis vorwiegend junger Frauen und Männer, die auf lokaler Ebene – unterschiedlich stark besuchte – Versammlungen und Aktionen durchführen, etwa infolge der 2011 landes- (und Europa-)weiten Bewegung der „Empörten“, in Spanien „15 M“ (Bewegung des 15. Mai). genannt. In letzter Zeit scheint sich diese Elan allerdings etwas abzuschwächen.

Weiterhin vital ist dagegen in Campiñera, wie durchaus auch in anderen andalusischen Städten, eine trotz alledem lebendige und ausgesprochen kreative Alltagskultur. Sie zeigt sich etwa in zahlreich wahrgenommenen Festen, dem hier besonders gepflegten Flamenco, Theateraufführungen mit ortsspezifischen Themen, „chirigotas“ und „comparsas“ (Karneval-Gesangsgruppen mit sozialkritischen Inhalten) und im vielfältigen Wirken mehrerer Kulturvereine. Der allgemeine Niedergang an Arbeit und Einkommen, zunehmende Existenzunsicherheit und schleichende Verarmung führen nicht in eine gesellschaftliche Depression, bisher jedenfalls nicht. Und der aktive Kern junger Leute hält die Möglichkeit eines Wiederauflebens von Massenprotesten, wie seinerzeit im Frühjahr und Sommer 2011 offen. Hier, wie auch sonst in Spanien: Hoffentlich stärker, dauerhafter und vor allem: erfolgreicher.

 

Dr. Hartwig Berger, 1975-2009 Privatdozent an der FU Berlin, 1989-2001Mitglied des Abgeordnetenhaus Berlin, 1. Vorsitzender des Ökowerk Berlin. berger@oekowerk.de

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