Planetare Grenzen in ethischer und soziologischer Sicht

Mit zwei Beinen auf einer Erde[1]

Hartwig Berger, 10/2024

  1. Planetare Grenzen als doppelte Aufgabe
  2. Klimaschutz als ethische Norm
  3. Klimabewusstsein im Licht der Sozialforschung
  4. Wie für planetare Grenzziehung werben?
  5. Im Netz des Lebens

 

Summary/Zusammenfassung

1. Sozialstudien weisen darauf hin, dass Bestrebungen zur Einhaltung Planetarer Grenzen eher überzeugen, wenn sie mit gleichzeitigem Bemühen um mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Beachtung sozialer Belange einhergehen . 

2. Ob überhaupt Achtung planetarer Grenzziehungen eine allgemeingeltende ethische Norm sein kann, wird in einem Exkurs zur Klimaethik nachgegangen.  Eine „weltbürgerlich“ ausgerichtete Ethik des Klimaschutzes erweist sich zwar überzeugungsfähig, hat jedoch hinsichtlich ihrer Handlungswirksamkeit nur eine schwache Basis.

3. Dem wird anhand von Umfragen zum Klimabewusstsein näher nachgegangen. Angst und Sorge um einen Klimakollaps sind ganz überwiegend feststellbar, doch bleibt die Bereitschaft gering, daraus Konsequenzen für die eigene Lebensführung zu ziehen. Überwiegend wird erwartet, dass Maßnahmen zum Klimaschutz „zumutungsfrei“ erfolgen. Zudem erhöht die Wahrnehmung der Folgen einer zunehmenden Erderhitzung nicht die Bereitschaft zu handeln, sondern verstärkt eher die Tendenz Wirkungen und Verursachung eines Klimawandels überhaupt zu leugnen. Deutlich stärker gilt das für Wähler*innen nationalistischer und autokratisch orientierter Parteien. Gesehen wird das als Bestandteil genereller Einstellungsmuster. Dass hier auch eine durch fossile Energiegewinnung über Jahrzehnte geformte Kultur eine Rolle spielt,  wurde in Nordamerika genauer untersucht, dem wäre in Europa näher nachzugehen.

4. In Konsequenz für eine Politik des Klimaschutzes und planetarer Grenzziehung wird dafür plädiert, statt der inzwischen allseits geläufigen Risiken stärker die „Gewinne“ in den Vordergrund zu stellen, die mit einer solchen Politik erreichbar sind. Dazu gehört ex negativo, die Zumutungen auf die reichen Sozialklassen zu konzentrieren, deren Wirken und Lebensführung vor allem für die Klima- und Umweltkrise verantwortlich ist. Umgekehrt sollte der zu erwartende Gewinn an Lebensqualität für die Bevölkerungsmehrheit herausgestellt werden. In jedem Fall fehlen jedoch Erzählungen und „Visionen“, die anschaulich und begreifbar darstellen, wie sich das Leben mit einer Einhaltung Planetarer Grenzen verändert.

5. Vielleicht hilft ein Bewusstseinswandel weiter, der die Trennung Mensch/Umwelt durchdringt und dazu führt, uns wieder als einen integralen Bestandteil der lebenden Natur zu verstehen, von Kopf bis Fuß auf diese angewiesen.

 

1. Planetare Grenzen als doppelte Aufgabe

Um der Einhaltung der Planetaren Grenzen eine realistische Perspektive zu geben, sollte sie als Aufgabe in einer doppelten Hinsicht gesehen werden. Aus „biogener“ Sicht dürfen Eingriffe in die lebende Natur nicht die Schwellen überschreiten, jenseits derer schwerwiegende und irreversible Veränderungen im globalen Naturhaushalt bewirkt werden. Um dafür als zwingend notwendige Aufgabe breite gesellschaftliche Unterstützung zu finden, sollte zugleich eine zweite „anthropogene“ Schwelle Beachtung finden: dass im gleichen Zug für ein menschenwürdiges Leben weltweit und für den Abbau sozialer Ungerechtigkeit zu sorgen sei. Eine erfolgsorientierte ökologische Politik wäre demnach auf den Abbau sozialer Ungerechtigkeit und eine Herstellung sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet. Und das nicht nur innerhalb und gegenwärtig in Gemeinwesen, sondern zugleich weltweit und intergenerationell.

Im Modell der „Donut-Ökonomie“, die – bildlich gesprochen – eine kreisförmige ökologische Grenze hin zur planetaren Natur und eine weitere hin zur Gesellschaft zieht, ist das auch so angelegt. Zugleich mit umfassendem Klima-, Boden-, Wasser- und Biodiversitätsschutz gilt es, etwa Geschlechtergleichheit, eine menschenwürdige Grundversorgung in den Feldern Nahrung, Wasser, Energie, Gesundheitsversorgung und Bildung herzustellen. Ähnlich angelegt ist dieser Doppelcharakter im Begriff der „Suffizienz“ bzw. der „sobriété“. Es geht mit ihm um ein „Maß halten zu zwei Seiten hin“: um ein Leben und Wirtschaften, mit dem die Grenzen der Natur- und Umweltverträglichkeit eingehalten werden; und darum, dass ein für alle menschenwürdiges Lebensniveau gesichert ist.

 

Ein noch immer aktuelles Beispiel:

Ein Fehler von Robert Habeck und seines Ministeriums in der Erarbeitung des Heizungsgesetzes war im Rückblick (wo wir immer schlauer zu sein behaupten), dass in der ersten offenbar für die Kabinettsberatung gedachten Vorlage die Regelungen für Umbau und Erneuerung von Heizungen  eingearbeitet waren, hingegen finanzielle und soziale Begleitmaßnahmen noch ausgeklammert blieben. Das lieferte – nach „diskreten“ Hinweisen an „Bild“ – in der Folge für weite Kreise in Politik und Öffentlichkeit einen willkommenen Vorwand, die Gesetzesvorlage und mit ihr die Klimapolitik der Grünen insgesamt zu desavouieren. Im Rückblick wäre es besser gewesen, zunächst die Umrisse der verfolgten Heizungsreform in eine breite Bürgerbeteiligung zu geben und dazu aufzurufen, soziale Auswirkungen und mögliche entstehende Ungerechtigkeiten zu identifizieren, mit der ausdrücklichen Verpflichtung, das in einer sozial gerechten Umsetzung des Gesetzes zu berücksichtigen. Erst danach wäre das Heizungsgesetz dann im Kabinett zu beschließen und in den Bundestag einzubringen. Übrigens ein Beispiel für die immer wieder propagierte Bürgernähe und Bürger-Partizipation in der Politik. Anzunehmen ist, dass so nicht nur die Akzeptanz des Gesetzes deutlich erhöht und die dem Klimaschutz förderlichen Auflagen nicht, wie geschehen, weithin demontiert worden wären. Auch die Umsetzung des Gesetzes wäre dann vermutlich besser gelaufen, Wärmepumpen wären eher als klimafreundliche Heizalternative angenommen und die massiven Panikkäufe von Öl- und Gasheizungen vermieden worden. 

In eine ähnliche Richtung weisen Sozialuntersuchungen zur Klimapolitik. Sie zeigen, dass die Besorgnis über den Klimawandel und seine Folgen beim überwiegenden Teil der Befragten zwar groß oder sehr groß ist; zugleich aber gibt es starke Vorbehalte bei Maßnahmen zum Klimaschutz gerade bei Menschen, die wirtschaftliche Ängste und Unsicherheit artikulieren. Oft wird dann auch verneint, dass menschliches Handeln, wie die Verbrennung fossiler Ressourcen, überhaupt ursächlich für den Klimawandel sind – ein klassischer Fall für kognitive Dissonanz.

Um eine Sozialstudie als Beispiel zu nehmen: Im qualitativen Teil der Umfragen, die das Soziologenteam der HU Berlin unter Steffen Mau im Buch „Triggerpunkte“[2] veröffentlicht hat, wird in den ergänzenden qualitativen Gruppendiskussionen immer wieder und deutlich die Befürchtung artikuliert, dass eine Politik des Klimaschutzes die Lasten den weniger bemittelten Bevölkerungsklassen aufbürdet, statt die Wohlhabenden und Reichen zur Kasse zu bitten. Verstärkt wird das mit dem weithin vorhandenen Wissen, dass für die Klimagase und damit die Erderhitzung ganz überwiegend die oberen Einkommensgruppen verantwortlich sind. „Die Verbindung von sozialer und ökologischer Frage ist das zentrale Thema, das sich durch alle Klimadiskussionen zieht“, wie „Triggerpunkte“ resümiert[3].

In dieselbe Richtung weist auch die Untersuchung „Umweltbewusstsein in Deutschland 2022“, die vom BMUNR und dem UBA beauftragt wurde. Auf die Frage „Ich finde es ungerecht, dass vor allem reiche Menschen Umweltprobleme verursachen und vor allem arme Menschen darunter leiden“ stimmen 48% „voll und ganz zu“ und 32% „eher zu“[4].  Diese Bewusstseinslage sollte in der Politik entsprechend Berücksichtigung finden.

Allerdings: Die Einstellung, dass Klimaschutz sozial gerecht erfolgen muss, beschränkt sich weitgehend auf das „eigene“ Land, die eigene „Nation“, also „wir in Deutschland“, „wir in Frankreich“, „wir in …“. So verbanden sich zunächst in der gegen dem Klimaschutz dienliche Maßnahmen gerichteten[5] Gelbwesten-Bewegung in Frankreich späterhin ökologische mit sozialen Forderungen in der wirksamen Parole „fin du mois, fin du monde“[6].  Es gehe darum in Frankreich, „le pouvoir d´ achat“, die Kaufkraft der Volksklassen mit dem Bemühen um wirksamen Klimaschutz zu verbinden. Und in der Bevölkerungsmehrheit dort werden, wie in den meisten europäischen Ländern, Zuwanderer und Flüchtlinge aus sozialen Ansprüchen ausgeschlossen[7]. Ein Gerechtigkeitsbewusstsein im weltbürgerlichen Sinn ist nur bei einer begrenzten Minderheit von Menschen zu finden. Ähnliches gilt für die Generationen-Gerechtigkeit, also ein Bewusstsein, dass die Gesellschaften von heute nicht die Lebens-Chancen und -Möglichkeiten zukünftiger Generationen beschneiden dürfen – wie es das wegweisende Urteil des Bundes-Verfassungsgericht von März 2022 förmlich unterstreicht.

Einer nationalen Einschränkung der sozialen Frage in der Klimapolitik können wir aus sozialökologischer Sicht natürlich nicht folgen. Ohne eine weltbürgerliche und die intergenerationelle Sicht und Zielsetzung scheitert ohnehin der Anspruch, Planetare Grenzen und Anforderungen des Klimaschutzes wirksam einzuhalten. Er wäre aber auch nicht durchsetzbar, wenn die bestehenden weltweiten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten nicht zugleich angegangen und zumindest deutlich reduziert werden. Wie aber ist weltbürgerliche und intergenerationelle Orientierung in unserer Klima- und Umweltpolitik überzeugungs- und mehrheitsfähig?

 

2. Klimaschutz als ethische Norm

Dazu ein philosophischer Exkurs, der an den im vergangenen Jahr leider verstorbenen Philosophen Ernst Tugendhat anschließt[8]. Ernst Tugendhat war in den 80er Jahren politisch engagiert, sowohl für die Rechte von Roma und Sinti, wie für ein atomwaffenfreies Europa und gegen die damals betriebene NATO-»Nachrüstung« mit nuklear bestückten Pershing II Raketen und Cruise Missiles[9]. In seinen Schriften zur philosophischen Ethik sucht er Voraussetzungen für eine Allgemeingeltung moralischer Regeln darzulegen, in ähnlicher Weise wie Immanuel Kant seinerzeit in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“. Er unterscheidet dazu zwischen „heteronomen“ oder kommunitären, auf spezifische Gesellschaften beschränkten und „autonomen“, für alle Menschen generalisierbaren moralischen Regeln. Bei einer kommunitären Moral mag es sich um eine durch Verwandtschaft oder anders definierte soziale Gruppe handeln, um eine lokale zu verortende Gemeinschaft, eine Religion, einen nicht staatlich (wie sog. Stammesgesellschaften) oder einen staatlichen gesellschaftlichen Verbund. Moralisch oder unmoralisch ist ein Handeln  relativ zu spezifischen Erwartungen der jeweiligen community, auch dann, wenn nur innerhalb dieser community Allgemeingeltung beansprucht wird, wie das etwa bei Religionsgemeinschaften in der Regel der Fall ist. Die Regeln einer heteronomen Moral führen zumeist auf Normen zurück, die nicht mehr wirklich begründbar und dafür autoritativ gesetzt sind. Beispiel dafür sind Verhaltensgebote von Religionsgemeinschaften, wenn diese aus Anweisungen einer Schrift, eines Religionsstifters, oder über diesen eines angenommenen überirdischen Wesens hergeleitet werden.

Die Regeln einer autonomen, also nicht autoritativ gesetzten Moral[10] gelten demgegenüber als universell, mit dem Anspruch einer quasi weltbürgerlichen Geltung. Sie formulieren Ansprüche, die Menschen wechselseitig aneinander stellen, “wenn sie sich einfach nur als miteinander leben wollende Menschen verstehen”[11]. So werden sie Menschen in ihrer Umgebung, die sichtbar Hunger leiden, Nahrung zur Verfügung stellen; und sie werden im umgekehrten Fall dieselbe Hilfe von jedem Anderen wie auch den zur Zeit Hungernden erwarten. Als moralisch qualifizierbar sind Ansprüche und Regeln immer dann, wenn sie sich plausibel als wechselseitige und gemeinsame darstellen lassen. Eine “autonome” Moral zeichnet sich durch wechselseitige Begründbarkeit aus, wobei “die Rücksicht auf die Interessen aller zur Absicht der Begründung gehört”(Tugendhat). Leicht einzusehen ist, dass eine solche Moral nicht durch Macht gesetzt sein kann, sondern Gleichheit und gleiche Achtung als moralische Personen voraussetzt. Alle werden mit ihren wechselseitig zu klärenden Ansprüchen in gleicher Weise ernst genommen.

Die Ansprüche des Umwelt- und insbesondere des Klimaschutzes sind Paradebeispiele einer solchen universalisierbaren Moral. Eine Klimamoral muss in diesem Sinn autonom sein, da sie ohne Anspruch auf universelle Geltung wenig Sinn macht. Kein Lebewesen auf der Erde, erst recht nicht die am Ende von Nahrungsketten befindlichen Menschen, kann sich Veränderungen des Weltklimas entziehen; die Atmosphäre, um deren anthropogen eingeleitete Veränderung es hier geht, ermöglicht uns zu leben, zu atmen, sie schützt uns vor der unermesslichen Kälte und Leere des Weltraums. Moralische Erwartungen bezüglich der Gefahren und Folgen von Klimawandel schließen daher alle Personen, Gesellschaften und Staaten ein, unabhängig davon, ob sie das nun wahrhaben oder nicht. Da sie jede gesellschaftsspezifische Moral überschreiten, können sie nicht autoritativ auf grundlegende Normen oder Annahmen zurückgeführt werden. In ähnlicher Weise ist die Respektierung und Hilfsverpflichtung für alle Grundbedürfnisse von Menschen – also die von mir eingangs genannte anthropogene Schwelle der Planetaren Grenzen universalisierbar.

Wie steht es aber um die praktische Wirksamkeit einer „autonomen“, universell gültigen Moral, die mit der – zur Einhaltung Planetarer Grenzen unverzichtbaren – weltbürgerlichen und intergenerationellen Orientierung vorgesetzt ist? Eine universelle Moral hat aus Sicht von Ernst Tugendhat nur die Chance, durch die Kraft der begründeten Überzeugung zu wirken. Eine durchschlagende Wirkung ist allerdings erst dann gegeben, wenn eine sehr große Zahl der Menschen dem folgt. Ihr Tun würde sich etwa, ähnlich dem kategorischen Imperativ Kants, an der Maxime orientieren: „Handle so (allen gegenüber) wie du aus der Perspektive einer beliebigen Person wollen würdest, dass alle handeln“[12]  Wer aus dieser Sicht eines „verallgemeinerten Anderen“ handelt, ordnet sich dadurch einer moralischen Gemeinschaft zu, welche die Menschheit als Gattung, als Ganzes umfasst. Die Formulierung „alle Menschen sind Geschwister“, bringt die Erweiterung einer ursprünglichen wechselseitigen familiären Verpflichtung zu einem universellen Geltungsbereich treffend zum Ausdruck. Die Orientierung an der „Gemeinschaft aller“ unterscheidet sich vom Ansatz der Kantischen Ethik, nach der ein Billigung und Engagement für einen Schutz des Weltklimas als ein verpflichtendes Gebot für jedes  mit Vernunft begabte Wesen herzuleiten wäre. Nach Tugendhat ist es die zwingende und schlüssige Entscheidung eines oder einer jeden, sofern sie oder er sich als Mitglied einer universellen Gemeinschaft und ihren auf Gegenseitigkeit und gleicher Achtung gründenden Ansprüchen zu versteht. „So schwach ist nun einmal die Basis der (universellen/autonomen) Moral, und es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass kein Versuch, sie künstlich stärker erscheinen zu lassen als sie ist, die Menschen eher dazu bewegt hat, moralisch zu sein[13].

Diese Einschätzung zur Wirksamkeit einer weltbürgerlich und intergenerationell gerichteten Klimaethik ist wenig hoffnungsvoll. Erst recht heutzutage, wo europa- und weltweit nationalistisch und identitär verengtes Denken und Staatshandeln quasi „im Vormarsch ist“.  es geht hier um den Fortbestand organisierter menschlicher Existenz auf der Erde. Klimakatastrophe und die Massenvernichtung  von Tier- und Pflanzenarten bleiben ein Randthema, in jedem Fall fehlt ein handlungswirksamer Druck aus der Gesellschaft. „Die große Verblendung, die Amitav Ghosh[14] in seinem gleichnamigen Buch generell und speziell für die Literatur analysiert, scheint – noch? – zu funktionieren. „Bislang besteht der Erfolg der politischen Ökologie (vorwiegend (HB)) darin, die Menschen in Panik zu versetzen und diese zugleich aus Langeweile zum Gähnen zu bringen … So erklärt sich die Handlungslähmung, die sie zu oft hervorruft.[15]. Mehr noch, wie in den jüngsten Wahlkämpfen in Deutschland die Bündnisgrünen erleben durften: Ihren ökopolitischen Anliegen schlug weniger „Langeweile“ sondern zunehmend „muntere“ Aggressivität und Hass entgegen.

 

3. Klimabewusstsein im Licht der Sozialforschung

Schauen wir uns zur Ortung und Bewertung von Umwelt- und Klimabewusstsein Ergebnisse der Umfrageforschung[16] an. Ich beziehe mich auf folgende opinion polls:

Die Studie der internationalen NGO Avaaz zur Klimaangst wurde 2021 von 7 universitären Einrichtungen aus 7 Ländern durchgeführt. Es wurde ein sample von insgesamt 10.000 Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren aus 10 Ländern befragt, jeweils 1.000 aus Australien, Brasilien, Finnland, Frankreich, Indien, Nigeria, den Philippinen, Portugal, den UK und den USA[17].

Das Unternehmen Veolia beauftragt seit 2022 ein französisches Forschungsinstitut ein „Barometer of Ecological Transformation“, die zweite Umfrage vom Jahresbeginn 2024[18] basiert auf einer Erhebung in 26 ausgewählten Ländern auf allen Erdteilen[19].  Es wurden insgesamt 29.500 Personen unter 18 Jahren, mindestens 1.000 pro Land, befragt; die Stichproben waren nach Geschlecht, Alter, beruflicher Tätigkeit und/oder Einkommen repräsentativ gewählt.

Das Bundesministerium (BMUV) beauftragt alle zwei Jahre gemeinsam mit dem UBA eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zum Umweltbewusstsein in Deutschland. Die letzte Veröffentlichung einer Ergebnisstudie ist von 2022. Die Befragung fand online mit einer Stichprobe von 2.073 Befragten ab 13 Jahren, nach jeweils gemittelten demografischen Merkmalen statt[20].

Die Fernuniversität Ökonomie und Management (FOM) führt in jedem Sommer unter Einsatz ihrer Studierenden eine Umfrage zu Umweltverhalten und Klimabewusstsein in Deutschland mit standardisierten Interviews durch. Im Unterschied zu den ersten beiden erwähnten Umfragen verwendet sie einen detaillierten Fragenkatalog. Auch finden die Befragungen, anders als in der BMUV/UBA Studie, zu großen Teilen face-to-face statt. Die Befragten – im Sommer 2024 waren es 24.067 – kommen aus verschiedenen städtischen und ländlichen Regionen und sind nach Alter und Geschlecht repräsentativ ausgewählt. Bezüglich Berufsausbildung und Haushaltseinkommen ist die Umfrage jedoch nur in Grenzen repräsentativ[21].

Übereinstimmend zeigen alle vier Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit sehr oder zumindest deutlich über die Erderhitzung beunruhigt ist.

So bei Avaaz: In allen Ländern waren die Befragten über den Klimawandel besorgt (59 % waren sehr oder äußerst besorgt und 84 % waren zumindest mäßig besorgt). Mehr als 50 % berichteten von den folgenden Gefühlen: traurig (66,7%), ängstlich, wütend, machtlos, hilflos (51%) und schuldig. Mehr als 45 % der Befragten gaben an, dass ihre Gefühle in Bezug auf den Klimawandel ihr tägliches Leben und ihr Funktionieren negativ beeinflussen[22].  75 % hielten die Zukunft für beängstigend, 83 %, meinten, dass die Menschen versagt haben, sich um den Planeten zu kümmern.

Nach dem „Veolia-Barometer wird die Wirklichkeit des Klimawandels von 89% aller Befragten als gesichert anerkannt.

Die BMU/UBA Studie fragt nach „bereits jetzt spürbaren Auswirkungen des Klimawandels“ in mehrfacher Hinsicht und erhält zu „Trockenheit und Dürren“ 85%, zu Starkregen 83% und zu Hitze 80% Zustimmung. 73% erklären zum Klimawandel gut (53%) oder sehr gut (20%) informiert zu sein. Eine wichtige Einschränkung zeigt sich allerdings in der Gewichtung des Themas „Klima“. Es wird zwar von 57% für wichtig eingeschätzt (bei den14- bis 29jährigen zu 66%), ist damit jedoch den Themen „Zustand des Gesundheitssystems“ (67%) und Zustand des Bildungssystems“ (66%) nachgeordnet.

Am instruktivsten sind die Ergebnisse der FOM-Studie 2024, die mit einer sehr großen Stichprobe (>24.000), teilweise in face-to-face Gesprächen und mit einem weitweitaus differenzierteren Fragenkatalog als die Avaaz-Studie und das Veolia Barometer arbeitet. Die für uns wichtigsten Ergebnisse der Umfrage:

Dass die menschlichen Eingriffe in die Natur „oft katastrophale Folgen haben“ finden  75% – der Befragten. 2/3 (68%) stimmen sogar deutlich oder gänzlich der Einschätzung zu, „wenn die Dinge so weiterlaufen wie bisher, werden wir bald eine große ökologische Katastrophe erleben“.

Jedoch findet nahezu ein Drittel (30%), dass „die sogenannte ökologische Krise der Menschheit stark übertrieben ist“. Hier gibt insbesondere zu denken, dass die „umweltskeptische“ Haltung gegenüber der letzten Umfrage von 2023 von damals nur einem Fünftel deutlich zugenommen hat. Angesichts der Tatsache, dass klimabedingte Katastrophen und Extremereignisse immer häufiger und schlimmer werden, drängt es sich auf, dass als zunehmende Abwehrhaltung angesichts der sich vollziehenden Erderhitzung und ihrer Folgen zu deuten. Ich komme darauf zurück.

Insgesamt bewerten Frauen die Umweltkrise und ihre Folgen signifikant häufiger als sehr ernsthaft. Frauen zeigen auch eine höhere Bereitschaft zu einer „nachhaltigen“ Lebensführung, zu 83%, gegenüber 73% der Männer.

Auffallend ist ein ganz überwiegendes Bewusstsein von einer Polykrise, in die wir mit gleichzeitig mehreren bedrohlichen Entwicklungen zunehmend hineingeraten. Die Großrisiken von Kriegen und Cyber-Angriffen, von Extremwetterlagen, Umweltkrisen und umweltbedingten Erkrankungen, auch von Inflation und dem Ausgesetztsein an falsche Information werden alle als sehr ernsthaft bewertet, mit Antworthäufungen zwischen 73% und 84%, nur das Risiko von Arbeitslosigkeit fällt mit 54% etwas ab.  Auch hier zeigt sich ein merklicher Unterschied in der Risikobewertung von Frauen gegenüber Männern: bei Extremwetter 85% zu 79%, bei Kriegen 87% zu 81%.

Aufschlussreich ist, dass der bekundete überwiegende Klima- und Umweltpessimismus nur geringe Auswirkungen im Alltagsverhalten und in der Lebensführung der Befragten hat. Um die zusammenfassende Bewertung der Autor*innen zu zitieren[23]

„Vor allem in den Bereichen Ernährung und Mobilität will die Mehrheit ihr Verhalten nicht zugunsten des Klimas anpassen. Ob Methan-Emissionen oder hoher Wasserverbrauch – die industrielle Tierhaltung und die Produktion tierischer Produkte haben Auswirkungen auf die Umwelt. Doch die Studie zeigt: Würstchen, Schnitzel und Co. werden auch in Zukunft auf den meisten Tellern in Deutschland liegen. Nur jeder Dritte will versuchen, der Umwelt zuliebe vermehrt auf Fleisch und Fisch zu verzichten. Den Konsum von Tiererzeugnissen wie Käse, Milch und Eier will sogar nur rund jeder Vierte reduzieren.

Auch beim Thema Mobilität zeigt sich bei den Deutschen nur bedingt die Bereitschaft, auf umweltfreundliche Alternativen umzusteigen: Zwar möchten 54 Prozent versuchen, verstärkt mit dem Rad zu fahren oder zu Fuß zu gehen. Doch gerade einmal 39 Prozent – und damit deutlich weniger als die Hälfte der Befragten – planen, das Auto in Zukunft öfter stehen zu lassen. Auch der öffentliche Nahverkehr ist bei der Mehrheit keine beliebte Alternative: Bahn und Bus wollen in Zukunft nur vier von zehn Befragten öfter nutzen.“

Ein Bewusstsein vom Ernst der Klima- und Umweltkrise hätte demnach nur sehr begrenzt Folgen auf die Lebensführung. Klimabewusstsein führt keineswegs schon zu einem klimagerechten Handeln, auch nicht in Ansätzen.

Zu einem günstigeren Ergebnis kommt die BMUNR/UBA Studie. Jedoch sind an der Validität Zweifel angebracht, wenn wir die Antwortmuster mit der Wirklichkeit im Land vergleichen. [61% erklären, eine umweltfreundliche Partei zu wählen, 56% dass sie sich am Arbeitsplatz für die Umwelt engagieren, 55% boykottieren, so bekundet, umweltschädliche Firmen, 48% klimafreundlich zu investieren und 36% für Naturschutzgruppen zu spenden. So passt die erklärte Wahlpräferenz nur dann zum wirklichen Wahlverhalten, wenn die Befragten den meisten zur Wahl stehenden Parteien eine klimafreundliche Politik unterstellen. Und in oberflächlicher Sicht erklären ja auch –  mit Ausnahme von AFD und BSW – alle ernsthaft zur Wahl stehenden Parteien, dass sie sich für Klima- und Umweltschutz einsetzen.

Mit dem Ergebnis der FOM-Studie, dass eine deutliche Mehrheit sich für klimagerechtes Handeln nicht zuständig sieht, passt das zusammen. Denn mit Ausnahme der Grünen und ggf. der Linken spielen alle aussichtsreichen Parteien  beim Klima- und Umweltschutz „den Ball niedrig“. Ihren Einsatz dafür verbinden sie mit der ex- oder impliziten  Zusicherung, dass von ihnen vorgesehene Maßnahmen die Lebensführung der Menschen nicht antasten werden. Sie würden zumutungsfrei erfolgen, es werde nicht verlangt oder erwartet, dass die Menschen ihr Leben verändern, geschweige sich irgendwie einschränken müssten.  Es wird auf Technik, meist nicht genauer qualifizierte Innovationen und auf  wirtschaftlichen Selbstlauf gesetzt, vertraute Lebensgewohnheiten bleiben tabu, seien es täglicher Fleischkonsum, monatliche Flugreise oder die jährliche Buchung auf einem Kreuzfahrtschiff[24].  

Diese Zumutungsfreiheit ist, so Hedwig Richter und Bernd Ulrich, leitendes Prinzip der deutschen Regierungen in der Merkel-Ära wie auch unter der Ampel-Koalition[25]. Bündnis 90/Die Grünen als Partei, die Umwelt- und Klimapolitik als erklärtes Kernanliegen hat, gerät damit in eine schwierige Lage. Denn natürlich ist den meisten Menschen klar, dass zumindest mittelfristig mit der sich kontinuierlich verschärfenden Umwelt-, Klima- und Naturkrise ein Leben des „weiter so wie bisher“ nicht mehr möglich ist. Und aller Selbsttäuschung zum Trotz: Veränderungen im Lebensalltag wird es umso mehr geben müssen, je klima- und umweltbelastender eine Lebensführung in der Gegenwart ist. Diese Aussicht auf eine nicht mehr ferne Zukunft wird, wie die zu erwartende Verschärfung der Umwelt- und Klimakrise, als „ inconvenient truth“ wahrgenommen.  Wer insistent auf planetare Grenzen und Krisen hinweist, erntet als moderne Kassandra unangenehmer Wahrheiten schnell vor allem Abwehr und Ärger.

Das dürfte einer der Gründe sein, aus denen die Grünen in der letzten Zeit zunehmend zur Zielscheibe heftiger Gegnerschaft geworden sind. Exemplarisch dafür stehen die Konflikte um das Heizungsgesetz. Auch wenn es bei Einbringung der Gesetzesvorlage Fehler gab: Heftigkeit und Aggressivität, mit der es weithin aufgenommen und regelrecht verrissen wurde, erklärt sich daraus nicht. Auch nicht, dass in Reaktion darauf eine deutlich gestiegene Zahl an Hauseigentümern erst recht eine Öl- oder Gasheizung einbauen ließen; ungeachtet der Kenntnis um die Klimafolgen und selbst des zu erwartenden Anstiegs der Brennstoffpreise.

Innerhalb von Bündnis 90/die Grünen hat das Dilemma der unerwünschten Botschaft die Tendenz verstärkt, ebenfalls mehr dem trügerischen Versprechen der Zumutungsfreiheit zu folgen. Am Text des Programms, mit dem die deutschen Grünen in den Europawahlkampf  2024 gezogen sind, ist das deutlich zu erkennen: Ein Leitformel, seitdem ständig wiederholt, ist die Zusicherung, dass Grüne Klimaschutz-Politik den errungenen „Wohlstand“ in den Ländern der Europäischen Union nicht gefährdet, sondern vielmehr schützt und selbst weiter ausbaut[26]. Wenn der Begriff „Wohlstand“ aus der Mottenkiste der Wirtschaftswunder-Ideologie der BRD in den 50er Jahren geholt wird, kann das so verstanden werden: Fürchte dich nicht  vor dem was wir als Klimaschutz vorschlagen, niemandem wird es damit es beim materiellen Konsum schlechter, den meisten vielmehr besser gehen. 

Dennoch ist kaum zu bestreiten: Allein um jede Verschlechterung der Lebensumstände der ärmeren Sozialklassen, rund 50 % der Bevölkerung in Deutschland zu vermeiden, wird eine Klima- und Umweltpolitik, die den Namen verdient, erhebliche materielle Zumutungen für alle Sozialklassen ab der besser gestellten Mehrheit der alten wie der neuen Mittelklasse einfordern. Diese Binsenweisheit klammert auch die bündnisgrüne Politik zunehmend aus, wie die fast alle anderen Parteien ohnehin. So deutet das Grüne Europaprogramm nicht einmal an, dass die Lebensführung der reichen und der superreichen Sozialklassen zu um Dimensionen höheren Umwelt- und Klimabelastungen führt als „im Durchschnitt“. Bekanntlich hat der Trend zu einer zumutungsfreie Wende in der ökopolitischen Öffentlichkeitsarbeit das enttäuschende Wahlergebnis zum Europaparlament nicht verhindert.

Zwar schätzt, so die Umfragen, eine deutliche Mehrheit die Erderhitzung als durchaus besorgniserregend ein. Doch machen die Umfragen auch deutlich, dass dieses Bewusstsein nicht mit der wahrnehmbaren, zumeist auch der wahrgenommenen Verschärfung der Klimakrise einhergeht. Vielmehr scheint mit der sich Jahr für Jahr verschärfenden Klimakrise der Anteil derjenigen eher zuzunehmen, die entweder die Verursachung der Klimakrise durch menschliches Handeln leugnen, oder überhaupt die Erderhitzung bestreiten. Dazu einige Resultate aus den Umfragen:

Im Veolia-Barometer 2024 stimmen nur 73% der Befragten dem zu, dass das Handeln der Menschen auf der Erde für den Klimawandel verantwortlich sei – 2% weniger als in der ersten Barometer-Umfrage von 2022. 9% werten den Klimawandel als einen natürlichen Vorgang, 11% meinen, dass es überhaupt keine Klimaveränderungen gibt, 7% halten nicht für feststellbar, ob es Klimawandel gibt. Es fällt auf, dass Klimaleugnung gegenüber dem ersten 2022- Barometer in Polen um 10%, in der Tschechischen Republik um 5%, in Österreich um 6% und in Deutschland um 4% zugenommen hat.  Die Berichte und Wahrnehmungen stattfindender Klimakatastrophen schlagen sich in der Umfrage nicht nieder – im Gegenteil.

Ins Auge sticht auch eine deutliche Korrelation zwischen Wahlpräferenz und Klimaleugnung:

  • In Deutschland sehen 32%(!) keine Verursachung durch menschliches Wirken, jedoch 61% von denen, welche AFD wählen würden.
  • In Frankreich bestreiten 50% der rechtsnationalistischen Wähler den menschengemachten Klimawandel, in der Stichprobe der Gesamtbevölkerung sind es nur 25%.
  • In Niederlande sind 54% der rechtsextremen Wähler Klimaleugner, in der Bevölkerung sind es insgesamt 23%. Wenn wir das Ergebnis der letzten Wahl als Rechengrundlage nehmen, bei der die rechtsextreme PVV 37% der Stimmen erzielt, dann wären nur 3% der übrigen Bevölkerung Klimaleugner [?].
  • In den USA sind es unter Wählern der Republikaner 59%, bei 22% insgesamt.

Noch deutlicher zeigen die FOM-Umfragen einen gegenläufigen Trend von wachsender Umweltkrise und Bewusstsein dessen: In der 2023 durchgeführten Studie stimmten 20% der Einschätzung zu, dass „die sogenannte ökologische Krise der Menschheit stark übertrieben ist“. 2024 wären es hingegen bereits 30%.

Auch die UBA/BMUNR-Studie zeigt, im Zeitvergleich zwischen 2020 und 2022, eine eher abnehmende Bereitschaft, aus der weiterhin wahrgenommenen Klimakrise Konsequenzen zu ziehen. Ich zitiere:

„Die Umweltkognition der Befragten sank bei einigen Aussagen gegenüber den Vorjahren. Besonders zeigt sich dies bei der Verantwortung, die jeder und jedem Einzelnen zugeschrieben wird: Waren es in den Jahren 2018 und 2020 noch 74 beziehungsweise 70 Prozent der Befragten, die völlig zustimmten, dass jede und jeder Einzelne Verantwortung dafür trägt, dass wir nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen, sind dies 2022 nur noch 59 Prozent.

Die Befragten geben mit 52 Prozent weniger häufig an, aus Klimaschutzgründen auf Flugreisen zu verzichten als noch im Jahr 2020 mit 61 Prozent“[27].

Wie lässt sich zunehmende Klimaleugnung angesichts einer sich verstärkenden Klimakrise, und wie der hoch signifikante Zusammenhang zwischen Klimaleugnung und der Präferenz für autoritäre und nationalradikale Parteien erklären?

Zunächst zum zweiten Phänomen: Klimaleugnung ist offenbar Bestandteil von übergreifenden Einstellungs-, Denk- und Verhaltensmustern. Die AFD in Deutschland, die Republikaner in den USA, der Front National in Frankreich, die „Geert Wilders Partei“ in den Niederlanden, die „Wahren Finnen“ oder VOX in Spanien werden von ihren Anhängern nicht vor allem deshalb gewählt, weil sie den Klimawandel oder seine anthropogene Verursachung bestreiten. Viel mehr drängt sich auf, dass „Klimaleugnung“, also das Bestreiten oder Verdrängen einschneidender Veränderung der natürlichen Lebensumstände durch menschliches Verschulden, zum Kontext einer generellen „Veränderungsmüdigkeit“ in sich schnell wandelnden Zeiten gehört. Sie erscheint als Teil eines gespannten und zunehmend ablehnenden Verhältnisses zu Veränderungen, wie sie sich im gesellschaftlichen Umwelt der Betroffenen abspielen[28]. Veränderungen im Lebenszusammenhang wird mit Abwehr begegnet, seien es – um beim Thema zu bleiben – Windparks, ein Heizungsaustausch, eine Änderung der Landbewirtschaftung, eine Zurückverlegung von Deichen, eine Infragestellung des Verbrennungsmotors beim Privatauto. Geradezu klassisch zeigt sich die Abwehr von Veränderung bei der Xenophobie, besser: der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit[29], die umso stärker in Ortschaften ausgeprägt ist, je weniger in diesen überhaupt Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen leben.

Inwieweit hier auch die Fixierung auf eine durch fossile Energienutzung geprägten Kultur und Lebensweise wirksam ist, wäre zu untersuchen. Dass die Arbeiter+innen in den „rustbelts“, den von Bergbau und von fossil betriebener Industrie geprägten Regionen, positiv damit identifiziert sind, ist schon aufgrund des befürchteten  Arbeitsplatz- und Qualifikations-Verlusts nachvollziehbar. Doch es geht hier auch um kulturelle Fragen, um die fossile Energiegewinnung und -Nutzung als Teil der Heimat und um den Stolz und die Identifikation mit einer Tätigkeit, die bei einer ökologischen Transformation in Frage gestellt ist. Auch die Fixierung auf das Auto mit Verbrennungsmotor ist weitgehend kulturell geprägt[30] – auch hier mutet ein Handeln gegen eine erklärte Klimakrise Veränderungen zu.

Ein Beispiel aus Frankreich ist die Entstehung der „Gilet Jaune“ (Gelbwesten) Bewegung 2018/19. Veranlasst und zunächst konzentriert war sie auf die beschlossene Öko-Abgabe auf Benzin und Diesel-Treibstoff sowie die Verhängung  größerer Geschwindigkeitsbegrenzungen auf allen Landstraßen.  Zu erinnern ist auch an die zentrale Rolle, die in der agrarischen Protestbewegung europaweit die Kosten für den Dieselkraftstoff spielten, während z.B. die für die kleine und mittlere Landwirtschaft weitaus einschneidendere Niedrigpreise beim Verkauf von Agrarprodukten an die mächtigen Handelsketten nur von ökologisch orientierten Bauernverbänden wie der Confederation Paysanne und der AG bäuerliche Landwirtschaft ins Spiel gebracht wurde. Und mit den europaweiten Demonstrationen und Blockaden durch Traktoren drängt sich die Symbolik fossil betriebener Maschinen machtvoll und einschüchternd auf.

Auf die Zusammenhänge von fossiler Energienutzung und Alltagskultur konzentriert sich das nordamerikanische Forschungs-Netzwerk „Energy Humanities“[31], für Europa steht das in der dort betriebenen Intensität noch weitgehend aus.

 

4. Wie für planetare Grenzziehung werben?

Welche Folgerungen ergeben sich für eine Politik, die eine Einhaltung der Planetaren Grenzen als Kernanliegen hat?

 

4.1

Um breite Bevölkerungskreise für dieses Anliegen zu gewinnen, hilft es nicht wirklich, die düsteren Szenarien der planetaren Zukunft auszumalen. Wenn selbst Antonio Guterres, der in wiederholten dramatischen Erklärungen darauf hinweist, dass die Menschheit in beschleunigtem Tempo auf den Abgrund zurast, zwar medial verbreitet wird, aber regelmäßig damit wirkungslos bleibt und schnell vergessen wird, gibt das zu denken. Bei Lichte besehen ist das auch nicht verwunderlich. Die diskutierten Umfragen machen deutlich, dass die fortschreitende Klimakatastrophe[32] den meisten Menschen zumindest in Europa, den USA und der jüngeren Generation auch weltweit geläufig ist – und eben deshalb als bedrohlicher Zukunftsschatten allzu gerne verdrängt oder bis manchmal hin zur Aggressivität bestritten wird. Die Folgen dieser inzwischen erheblichen Verdrängungsleistung auf das Wahlverhalten erlebt in Deutschland Bündnis 90/die Grünen geradezu klassisch. Die Partei kommt mehr in Verruf und verlor an Stimmen in Wahlen wie Umfragen eben weil sie Klimaschutz ernsthafter vertritt als andere Parteien, die Klimaschutz nur am Rand vertreten und glauben machen, er sei mit technischen Lösungen, mit weniger Bürokratie, mehr Markt etc. quasi nebenher zu erreichen.

 

4.2

Wenn von materiellen Beiträgen für Klimaschutz die Rede ist, dann sollte von vornherein und vorweg klargestellt werden, welche Gesellschaftsklassen hier viel einliefern sollen und welche hingegen wenig oder überhaupt nicht. Eine durchsetzungsfähige Klimapolitik ist ohne Beachtung von Klimagerechtigkeit  und im Verbund mit Maßnahmen sozialer Umverteilung nicht zu machen. Es ist der Verdienst von Piketty und seinem Team im Clima Inequality Report[33], die soziale  Verantwortungsschere  für die Klimakatastrophe in Zahlen sichtbar gemacht zu haben:

–  die reichsten 10% der Weltbevölkerung sind für 48% aller Treibhausgas-Emissionen verantwortlich

–  die reichsten 1% der WB  sind es für 17%, aller THG-Emissionen,

–  die reichsten 0.1% sind es für 7%,

–  die ärmsten 50% sind es hingegen nur für 12%.

Die Reichen tragen durch ihre Lebensführung, ihren Überkonsum und durch ihre Hypermobilität um Größenordnungen mehr zur Klimaschädigung bei als – wenn überhaupt – die ärmeren Sozialklassen weltweit. Es wäre so total ungerecht, eben diese Sozialklassen für den Klimaschutz zur Kasse zu bitten bzw. zu belasten, statt die notwendigen Mittel und die Zumutungen eines anderen Konsumverhaltens und einer klimaverträglicheren Lebensführung von den privilegierten Klassen zu verlangen.

Das zeigt sich ebenso auf einzelstaatlicher Ebene. So ergibt der Inequality Report (Stand 2019) für Deutschland:

  • Die Haushalte der an Einkommen unteren 50% sind zu 26.73% an den klimaschädigenden Emissionen beteiligt,
  • die oberen 10% sind es hingegen zu 29%

 

zudem:

  • die wohlhabenden oberen 10% der deutschen Bevölkerung generierten 2019 im Schnitt 34 t CO2 pro Jahr,
  • die ärmeren 50% emittierten im Schnitt hingegen 5,9% im Jahr.

 

Ebenso aufschlussreich ist, in welchem Ausmaß Arme und Reiche seit 1990 für einen Rückgang der C02-Emissionen in Deutschland gesorgt haben, nämlich die „unteren“ 50% zu 34%, die „oberen“ 10% zu 1%. Wenn wir uns an der Zielgröße des Klimaschutzgesetzes für 2030 – nämlich 5,3 t CO2-Äquivatente pro Jahr und Person – orientieren, hätten die „unteren 50%“ das mit 5,9 t 2019 nahezu erreicht, während die „reichen 10%“ mit ihrem Überkonsum davon himmelweit entfernt sind. Es wäre ein krasser Verstoß gegen soziale Gerechtigkeit, unter diesen Umständen erhebliche Klima-Anstrengungen von den ärmeren Sozialklassen zu erwarten statt in allererster Linie die notwendigen finanziellen Mittel und einen Wandel in der Lebensführung von den reichen Klassen entsprechend der Einkommensskala. Zumal gerade sie, anders als die ärmeren Sozialklassen, über dafür notwendige Mittel verfügen. Eine sozial gerechte Klima- und Umweltpolitik kommt nicht daran vorbei, die notwendige Dekarbonisierung und ökologische Transformation mit einer tiefgreifenden Umverteilung des Reichtums in der Gesellschaft zu verbinden. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Einführung des Klimagelds als Ausgleich für eine schrittweise steigende CO2-Abgabe, die dann allerdings auch nur an den Teil der Bevölkerung mit geringem Einkommen ausgezahlt werden sollte.

 

4.3 

Sorge und Angst vor der Klimakatastrophe sind, wie die Umfragen sichtbar machen, vielfach mit der Furcht verbunden, dass ernsthaft betriebener Klimaschutz zu Veränderungen und Einschränkungen in der Lebensführung zwingt. Im Umgang mit der Klimafrage verbinden sich so gleich zwei höchst unwillkommene Botschaften: Der näher rückende Klimakollaps und zunehmende Eingriffe in die Lebensführung. Dem Klima geht es schlechter und Dir vermutlich auch. Diese Doppelbotschaft ist nicht handlungsmotivierend, sondern sie fördert vor allem Abwehr und Ablehnung.

In der politischen Kommunikation muss auf die Bedrohlichkeit der Klimakrise auch nicht ausdrücklich hingewiesen werden. Die meisten Menschen wissen das ohnehin. Dass die Weltmeere steigen, dass Hitzewellen und Monsterstürme häufiger und stärker werden, die Gletscher schmelzen und die Weltmeere steigen, erfahren sie aus zahllosen Medien, die sie lesen, sehen, hören, surfen oder scrollen. Statt darauf ein weiteres Mal herumzureiten, sollte politische Kommunikation Hinweise, Gründe und Argumente dafür vorbringen, dass wirksamer Klimaschutz den Menschen etwas bringen kann, dass er für die Lebensgestaltung attraktiv sein und dass er die Lebensqualität verbessern kann. Und da gibt es genug. Stromerzeugung durch Sonne und Wind ist um Längen preislich günstiger als die über fossile Brennstoffe oder über Kernspaltung, um von den Hochrisiken letzterer und den gesundheitlichen Folgen beider Wege zu schweigen. Eine möglicher, diesmal positiver Triggerpunkt  in der fast nur negativ besetzten Heizungsdebatte war so, dass eine fossilfreie Versorgung durch etwa Wärmepumpen mit großer Sicherheit binnen weniger Jahre, gestützt auf Wind- und Sonnen-Energie große und entscheidende Preisvorteile hat, während die Gas- und Ölpreise allein wegen des Zertifikatehandels und der steigenden CO2-Abgabe in die Höhe schnellen werden.                                                                                                                      

Ein Pluspunkt für Lebensqualität sind die meisten unter „natürlicher Klimaschutz“ zusammengefassten Maßnahmen. So ist gerade in Deutschland – seit der Romantik als Sehnsuchts- und Ort der Märchen und Träum besungen – der Wald stark kulturell aufgewertet[34]. Allerdings immer in Gefahr, zu Kitsch zu degenerieren, wie die Älteren aus Nachkriegs-Filmschnulzen wie „Schwarzwaldmädel“ oder „Der Förster vom Silberwald“  in Erinnerung haben mögen. Waldkultur kann allerdings auch nationalistisch und rassistisch instrumentalisiert werden, wie der „deutsche Wald“ der Nazis[35]. Die besondere kulturelle Bedeutung von Wald in Deutschland hat die Debatte um das Waldsterben in den 80er Jahren deutlich gemacht, die in anderen Ländern manchmal spöttisch als „German Angst“ betitelt wurde: Die zunächst nicht von der Hand zu weisende Befürchtung, dass die Wälder insgesamt absterben und das Land weithin in kahle Säuresteppen degradiert. Immerhin hat dieser Albtraum seinerzeit die Umsetzung der Entschwefelung und Entstickung an Kraftwerken[36] und die Einführung des Katalysators an Motorfahrzeuge erheblich beschleunigt.

Gegenwärtig eröffnet so ein zunehmendes gesellschaftliches Bewusstsein um die schwerwiegende Schädigung der Wälder als Folge der Erderhitzung auch eine Chance. Denn Regenerationsfähigkeit und Widerstandskraft der Wälder werden gestärkt, wenn Raum für eine natürliche Waldumgestaltung gelassen wird statt sie als Holzplantagen in Reih und Glied zu betreiben[37]. Artenreiche Mischwälder, deren Baumbestand in natürlicher Weise sich fortpflanzt, verjüngt und stirbt ist praktizierter Klima- und Artenschutz aus eigener Kraft und ist zugleich landschaftlich schön und attraktiv. Nicht von ungefähr wird das entspannte Umherwandeln in Wäldern, das „Waldbaden“ als der körperlichen wie seelischen Gesundheit dienlich gepriesen. Unter einer wichtigen Voraussetzung gilt das ebenso für die Wiederherstellung von Mooren oder die Umgestaltung von Agrarsteppen zu einer Agrarlandschaft mit wind- und arten-schützenden Feldrainen, Hecken und anderen Schutz und Vielfalt herstellenden Elementen. Die Voraussetzung dafür ist eine Agrarpolitik, die durch Angebote und Beratung Landwirte mitnimmt, insbesondere kleine und mittlere Betriebe, die sich mit „ihrem“ bearbeiteten Land identifizieren.

Gewinnerthema ist auch die Klimaanpassung in urbanen Räumen, denn sie bietet zunächst Schutz vor Extremhitze und ihren gesundheitlichen Gefahren, besonders in stark verdichteten Stadtquartieren. Klimaanpassung kann und sollte zugleich als Verbesserung der Lebensqualität für alle betrieben und beworben werden, insbesondere für Kinder, Alte, Menschen und nicht zuletzt Familien mit geringem Einkommen insgesamt, die zumeist in stärker verdichteten Stadtquartieren mit geringeren Grünanteilen und höherer Umweltbelastung leben. Die Entsiegelung von Flächen, die Begrünung von Dächern und Fassaden, die Anlage von Wiesen und „Regengärten“, mehr Bäume in der Stadt entlasten durch ihre Verdunstungskühlung das Stadtklima und sind durch Bindung von Feinstaub oder Lärmschutz deutlich gesundheitsfördernd. Mehr grüne Vielfalt in urbanen Räumen fördert, durch Studien eindeutig belegt, auch das seelische Wohlbefinden. Ebenso gilt das für mehr Naturleben in der Stadt wie z. B. durch Wildwiesen, angelegte Teiche, Nistgelegenheiten und so durch die Bereicherung der Lebewelt von den Singvögeln[38] bis zu den Schmetterlingen und Bienenarten.

Um an ein diesjährig zu wenig wahrgenommenes Jubiläum[39]  – Kants 300. Geburtstag – anzuknüpfen: Schon Immanuel Kant hat in seiner zu Unrecht fast vergessenen „Kritik der Urteilskraft“ die auffallenden Analogien zwischen dem Kunst- und dem Natur-Schönen dargelegt. Naturerscheinungen gefallen durch ihre „autopoetische“[40], selbst gestaltende Kraft, sie regen die „Einbildungskraft“(Kant), die menschliche Imagination an. Zusammenhänge in der Natur erscheinen als wohlgeordnete Einheit, wobei die ordnende „Logik“ und die vielfältigen Wechselbeziehungen nicht schlüssig überschaubar und gerade daher von besonderem Reiz sind. Weniger philosophisch formuliert[41], können Dimensionen der Schönheit städtischer Natur blühende Wiesen mit umherschwirrenden Schmetterlingen und Wildbienen sein; Pflaster aus deren Fugen Wegerich, Hirtentäschel oder Moos sprießt; Wege, die von Sträuchern, Stauden und Kraut umsäumt sind; Gewässerufer, die einen gleitenden Übergang zwischen Wasser und Land darstellen; Höfe, deren variantenreicher Bewuchs ein schattiges Refugium anbietet; unbeschnittene Hecken, die Schlupfwinkel für Tiere aller Art bieten. Um mit Alexander v. Humboldt, einem Ökologen der nachkantischen Ära, zu enden: „Wenn der Mensch mit regsamem Sinne … die weiten Räume der organischen Schöpfung misst, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt“[42]

 

4.4

Vor allem aber braucht es, wenn ernsthaft eine Politik verfolgt wird, die innerhalb der planetaren Grenzen verbleiben will, eine „Erzählung“, eine anschaulich nachvollziehbare Vision von der Gesellschaft, die man mit dieser Politik anstrebt. Die Menschen müssen wissen, wie sie – bzw. voraussichtlich dann erst ihre Enkel – leben werden, wenn der Klima-, Natur- und Umweltschutz regional wie weltweit konsequent betrieben wird. Eine solche Vision oder „Gesellschaftserzählung“ fehlt weitgehend in den gegenwärtigen Debatten. Technik und Organisation einer fossilfreien und klimaneutralen Energieversorgung, die Wege einer Substitution von Plastik durch natürliche Rohstoffe, die Gestalt einer Kreislaufwirtschaft und einer umwelt- und naturverträglich betrieben Landwirtschaft gehören dazu.

Doch es bleiben weiterreichende Fragen. Wie können wir eine vom letztlich selbstzerstörerischen Wachstumszwang befreite Wirtschaft realisieren, die zugleich eine menschenwürdige Grundversorgung weltweit garantiert? Wie ist eine nuklearfreie und gründlich entmilitarisierte Staatenwelt durchsetzbar? Wie die universelle Durchsetzung der Geschlechtergleichheit? Die Anerkennung kultureller Vielfalt in der Lebens- und Glaubensgestaltung? Gewaltverzicht und Gewaltfreiheit in zwischenstaatlichen Beziehungen? Der Weg zum Weltbürgertum und zu einer friedenssichernden Weltordnung? Solche Visionen sind nur scheinbar mit dem Makel des „nur“ Utopischen behaftet. Sie wären vielmehr Zielmarken, die aufzeigen, was denn mit „planetenverträglichen“ Gesellschaften zu erwarten ist. Mit dem wesentlichen Vorbehalt, dass diese Ziele nicht per Gewalt sondern durch die kommunikative Kraft der Überzeugung zu erreichen sind. Nur wenn die Vision oder „Gesellschaftserzählung“ aufzeigt, wohin die lange Reise gehen soll, kann sie für die zur Reise nötige Aufbruchstimmung sorgen.

 

5. Im Netz des Lebens

 Das Ziel der Einhaltung Planetarer Grenzen ist hochgradig abstrakt und in dieser Form für politische Kommunikation und Überzeugungsarbeit wenig geeignet.  Das bessert sich nur wenig, wenn die Grenzen im Einzelnen angesprochen werden.  Selbst in der Kommunikation zum drohenden Klimakollaps muss davon ausgegangen werden, dass – vom oft schon leidgeprüften Verständnis der Wetterextremen abgesehen – Ablauf und Ursachen der sich abzeichnenden Veränderungen auf der Erde und ihre Folgen auf unsere Lebensumstände nicht wirklich begriffen werden. Noch ausgeprägter ist das beim Verständnis der schwindenden Biodiversität der Fall, den komplexen Systemen der Wechselwirkung und der gegenseitigen Abhängigkeit von Arten und den schwerwiegenden Folgen, wenn immer mehr lebendige Vielfalt verschwindet. Und es erfordert schon einige Fachkenntnis um zu verstehen, warum der übermäßige Eintrag von Stickstoff und Phosphor in Böden und Meere, oder die Partikelverschmutzung in der Atmosphäre so brisant und gefährlich sind.

In anschaulichen Szenarien dessen, was passieren kann, ist die planetare Bedrohung zwar zweifellos in der Katastrophenform für breite Kreise nachvollziehbar. Nur stellt sich dann wieder das klassische Dilemma der Öko-Aufklärung, dass sie finstere und bedrohliche Wahrheiten verkündet. Das kann zwar in manchen Fällen zu Engagement und Aufbruch führen. Aber eben auch im größeren Maßstab zu Angst, Abwehr und gesteigerte Verdrängung. Mit Szenarien zu den Folgen planetarer Grenzüberschreitung werden Wahlen nicht gewonnen, wohl aber können sie mit ihnen verloren werden.

Einen Ausweg aus diesem klassischen Kassandra-Dilemma sehe ich gegenwärtig nicht. Vielleicht hilft ein Ratschlag weiter, den wir hin und wieder aus dem Kreis indigener Gesellschaften zu hören bekommen. Daher der Titel dieses Essays: „Mit zwei Beinen auf einer Erde“. Damit spielen noch dessen bewusste Lakotas, einer der First Nations in Nordamerika, zunächst wohl auf einen Ursprungsmythos an, der besagt, dass sich in einem Kampf auf der Erde die Zweibeiner – die Vögel und Menschen – gegen die Vier- und Vielbeiner durchgesetzt haben[43]. Aber vor allem machen sie darauf aufmerksam, dass die zweibeinigen Menschen Teil der Erde sind, auf der sie sich bewegen. Sich dessen bewusst zu sein, untrennbar zum lebendigen Teil der Erde zu gehören, nur in und mit ihm zu sein und zu leben. Eine Binsenwahrheit, die zu oft und gern übersehen und vergessen wird. In seinen letzten Schriften[44] hat Bruno Latour den Aufruf zu einer „terrestrischen Wende“ eindringlich dargestellt. „Die Welt, in der wir leben, mit der Welt, von der wir leben, zur Deckung bringen“[45].

„Wenn wir den Erhalt der Bewohnbarkeit (i.e. die strenge Einhaltung der Planetaren Grenzen) propagieren, treffen wir endlich wieder auf die wahren Eigentümer der Erde … Es sind die Lebewesen, die nach und nach den Planeten ERDE geschaffen haben – oder zumindest seinen winzig kleinen Teil, der bewohnbar ist – und dies anhand eines Prozesses, der zu Recht sui generis genannt wird, der sich selbst erzeugt hat[46].

Wir sind integraler Bestandteil der Natur – einer Natur, die sich in vielfältigen Zusammenhängen und Wechselwirkungen als lebendiger Teil des Planten Erde selbst erzeugt. Wir sollten daran unser Leben und Wirtschaften neu orientieren.

Diese Einsicht hilft allerdings nicht weiter, wenn es darum geht, den Ruf zur Achtung der Planetarischen Grenzen praktisch wirksam zu machen. Die Gesellschaft ist mit der Großen Beschleunigung seit über 85 Jahren und der Durchsetzung einer umfassenden Digitalisierung seit rund 30 Jahren immer mehr selbstreferentiell auf die von ihr geschaffenen eigenen Systeme und Lebenszusammenhänge bezogen, während die Beachtung der Folgen auf die natürliche Welt, in der wir leben und die Zusammenhänge mit dieser, stärker ausgeblendet werden. Die Welt, in der wir leben, wird als „Umwelt“ begriffen, als Welt um uns herum, als Welt außerhalb, derer wir uns auf vielfältige Weise bedienen und auf deren dadurch erfolgte Schädigung wir notorisch meistens zu wenig und zu spät achten. Schon der Begriff „Umwelt“ markiert die Marginalisierung: die Beachtung der ökologischen Fragen und Probleme ist sekundär zur Kommunikation innerhalb der verschiedenen Funktionssystem der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, auch der Kultur und der Religion. Die Kommunikation um die nach „außen“ gesetzten Umwelt bleibt immer nachrangig, sofern sie nicht über Protestbewegungen kurzzeitig hohe Resonanz erhält[47].

Vielleicht hilft eine sich langsam entwickelnde öffentliche Verständigung über die Bedeutung und Bedrohung der Biodiversität die Mauer zu durchbrechen, die wir uns mit der „Umwelt“, als Welt nur um uns herum errichtet haben. Denn eine solche Verständigung macht schnell klar, dass diese Mauer eine Selbsttäuschung ist. Die immer drängender werdende Gefahr, dass die Massenvernichtung von Arten auch die Fortexistenz der Menschheit aufs Spiel setzt, lässt sich auch in eine konstruktive Selbstbesinnung umkehren: Wir sind nur ein Bestandteil im Netz des Lebens auf der Erde, wir hängen mit allen Fasern an und in diesem Netz. Das von Steffi Lemke geleitete Ministerium hat diese einfache Wahrheit in der jüngst von ihr beschlossenen Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt 2030 (NBS 2030)[48] so formuliert:

Denn die Natur leistet harte Arbeit für uns Menschen. Unzählige Lebewesen vom Bakterium über Wildbienen bis zum Baum sorgen dafür, dass wir Menschen das haben, was wir zum Leben brauchen: Luft zum Atmen, sauberes Wasser zum Trinken, fruchtbare Böden, Nahrung, Medizin, Baustoffe. Außerdem schenkt intakte Natur Lebensqualität und Erholung. Die biologische Vielfalt schafft die Lebensgrundlagen für uns Menschen. Sie ist das Netz des Lebens, das uns trägt.

 

Das zu begreifen und zu verinnerlichen, wäre schon mal ein großer Schritt voran.

 


[1] Kernelement im Weltverständnis der indigenen Gesellschaft der Lakota in Nordamerika. Nach Milo, einem älteren Aktivisten, im Film „Petra Kelly – act now!“. Dazu Abschn.5 im Text.

[2] Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser, Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023, hier insbes. Kap. 5 „Heute-Morgen-Ungleichheiten“..

[3] A.a.O., S.242.

[4] BMUNR/UBA, Umweltbewusstsein in Deutschland 2022, S.50.

[5] Den Anstoß zu einer zugleich unerwartet breiten Protestbewegung waren die Einführung eines Öko-Aufschlags auf Kraftstoff und eine höhere Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen.

[6] „Ende des Monats, Ende der Welt“

[7] Die französische Ultrarechte, die bei den Europawahlen  33% an Stimmen erhielt, hat als zentrale und nach Umfragen gewinnversprechende Forderung, den Geflüchteten und Migranten, sofern sie nicht als asylberechtigt anerkennt sind, alle  monetären, sozialen und gesundheitlichen Leistungen zu streichen, zumindest aber deutlich zu kürzen. Die französische Rechte, Les Republicains, die mit Michel Barnier derzeit den Ministerpräsidenten stellt, folgen ihr darin mit nur wenigen Abstrichen.

[8] Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M., 1. Auflage 1993;  E.T., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007.

[9] Sein kritische Argumentation, zu lesen im Buch „Nachdenken über die Atomkriegsgefahr“, ist angesichts der hochgefährlichen Neuauflage nuklearer Drohungen, Abschreckungsstrategien und Proliferationsgefahren von beklemmender Aktualität.

[10] Tugendhat folgt hier dem Autonomiebegriff von Kant: Autonomes Handeln, das nicht durch Vorgaben von außen, sondern durch selbstbestimmte und durch Vernunft geleitete Überlegung bestimmt ist.

[11] Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, S.93

[12] Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S.83

[13] Tugendhat, Vorlesungen…, S.97

[14] Amitav Ghosh, Die große Verblendung, 2017.

[15] Bruno Latour, Nikolaj Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse, Berlin 2022, S.43

[16] Umfragen mit standardisierten Frage und Antwort- (meist „ja-nein“) Vorgaben sind allerdings  hinsichtlich ihres Aussagewerts mit großer Vorsicht und Zurückhaltung zu nehmen. Solange nicht genauer nachgefragt wird, ist nicht klar, wie die jeweils Befragten ihrer Antwort in ihrem Meinungs- und Einstellungsspektrum einordnen. Ohne ein klärendes qualitatives, damit zeitaufwendiges Nachgespräch ist nicht erschließbar, wie wichtig die angesprochene Sache für die jeweils Befragten ist . Wenn jemand den Klimawandel als „sehr bedrohlich“ ankreuzt, kann das sehr viel oder sehr  wenig bedeuten. Die Antwort sagt nicht, ob sie oder ihn das weiter umtreibt oder nur eben gesagt wird, wenn davon die Rede ist. Wir wissen nicht, ob Klima und Klimawandel im Alltag der Befragten Thema ist, in welcher Weise, ob oft, selten oder nie. Ob die Erderhitzung sie oder ihn stark, wenig oder gar nicht emotional berührt; ob sie „ruhig schlafen lässt“ oder gar zur einer psychischen Belastung wird.

[17] https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(21)00278-3/fulltext

[18] https://www.veolia.de/barometer-2024

[19] 3 aus Afrika (Nigeria, Marokko, Cote d´Ivoire), 5 aus Amerika,4 aus Ostasien (China, Indien, Japan, Indonesien), 10 aus EU (u.a. Frankreich, Deutschland, Italien, Polen) und UK,2 Mittlerer Osten, 1 Ozeanien (Australien)

[20] https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/umweltbewusstsein-in-deutschland-2022

[21] Die Auswahl der Befragten nach diesen Kriterien und entsprechend der jeweiligen Anteile erfolgte nicht im Vorfeld der Befragung, sondern nachträglich nach den dazu gegebenen Antworten der Befragten

[22]

[23] https://dzw.de/umweltbewusstsein-kein-verzicht-fuers-klima

[24] Als am 22.8.2024 die Rettung der Meyer-Werft im Emsland durch einen Sonderkredit der Bundesregierung in einem feierlichen Akt vor Ort, in Anwesenheit des Bundeskanzlers, verkündet wurde, war in den Medienberichten fast kein Wort zu den erheblichen Klima- und Umweltschäden dieser Monsterkähne zu hören. Stolz wurde verkündet, dass die Meyer-Werft 11 der dieselbetriebenen Riesen in Auftrag hat. Erfreuliche Ausnahme im Chor der Klima-Blindgänger war Arte mit seiner kritischen Berichterstattung. (Experten schätzen die jährlichen CO2-Emissionen der Kreuzfahrtschiffe auf jährlich 85 Mio. t).

[25] H. Richter/B. Ulrich, Demokratie und Revolution, Köln 2024. Insbesondere Kap. „Am toten Punkt“, S.73ff.

[26] Im zentralen Einleitungstext des Programms ist als Hauptziel der Grünen formuliert: „Wohin wir wollen: ein Europa, das Wohlstand für alle mehrt“; diesem Ziel wird die Klimaschutzpolitik ausdrücklich untergeordnet: Europa zu stärken und das Klima zu schützen, ist also kein Selbstzweck; wir tun es, „um Ihren Wohlstand, Ihre Freiheit und Ihre Sicherheit zu schützen und zu mehren.“  Nachgeordnet – wenn auch immerhin – wird in einem späteren Kapitel der Wohlstandsbegriff öko-bezogen ausgelegt: „Europas Wohlstand und seine Lebensqualität sind unmittelbar mit seinen natürlichen Grundlagen verbunden – mit fruchtbaren Böden, naturnahen Wäldern und sauberen Gewässern, mit Lebensräumen für eine große Artenvielfalt, mit einer intakten Natur an unseren Küsten und in unseren Landschaften.“ Im Text bleibt das allerdings eine nachgeordnete Botschaft, wenn „Wohlstand“ nicht gleich zu Beginn so definiert, oder besser noch: durch einen anderen begriff wie z.B. „Wohlergehen“ ersetzt wird.

[27] Umweltbewusstsein in Deutschland, S.52.

[28] Mit „Veränderungsmüdigkeit“ folge ich Steffen Maut, „Ungleich vereint“, Berlin 2024, Kap. 4. Dort allerdings bezogen auf die besondere Situation im Osten Deutschlands.

[29] Unter „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ ist die Abwertung von in der Regel sozial benachteiligten Gruppen durch Diskriminierungen, Vorurteile oder negative Stereotype zu verstehen.

[30] Wolfgang Sachs, Die Liebe zum Auto, Hamburg 1990, Hartwig Berger, Entgrenzte Städte, Münster 2003, Kap. 3 „Stadt im Raum“.

[31] Dazu insbesondere der Sammelband „Energy Humanities. An Anthology“ von Imre Szeman und Dominic Boyer, 2017.

[32] Der Begriff „Klimakatastrophe“ war vor nunmehr Jahrzehnten noch geläufig. Er wurde vom bewusst verharmlosenden „Klimawandel“ abgelöst, als die Auswirkungen dieses “Wandels“ immer deutlicher und immer beunruhigender wurden.

[33] https://wid.world/news-article/climate-inequality-report-2023-fair-taxes-for-a-sustainable-future-in-the-global-south/; in der folgenden Zusammenfassung stütze ich mich auf einen Vortrag  des Soziologen Sighard Neckel von der Universität Hamburg 2023: https://www.youtube.com/watch?v=IZ-BCwuOp7c.

[34] Ursula Breymayer, Bernd Ulrich: Unter Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Dresden, 2011,

[35] Wie das „germanische Waldvolk“ gegen „das semitische Wüstenvolk“.

[36] Die Großfeuerungsanlagenverordnung (GfAVo) trat 1983 in Kraft, bis 1993 ging der Ausstoß an SO2 in den Kraftwerken der alten Bundesrepublik um 89%, der von NOx um 72%von Feinstaub um 80% zurück.

[37] Plädiert wird damit nicht für den Verzicht auf Holznutzung, jedoch auf die Einbindung von Holzeinschlag in ein davon nicht geschädigtes Ökosystem „Wald“, verbunden mit der wertmäßigen, den gebundenen Kohlenstoff konservierenden Nutzung, statt das Holz zu verbrennen und die Atmosphäre mit zusätzlichem CO2 zu belasten.

[38]  Dass Vogelgesang das seelische Gundbefingen verbessert, ergaben jüngst zwei Studien. Die eine des Max Planck Instituts für Bildungsforschung: https://www.nature.com/articles/s41598-022-20841-0; sowie eine weitere Untersuchung des King`s College in London: https://www.nature.com/articles/s41598-022-20207-6.

[39] Immanuel Kant, wurde am 22. April 1724 in seiner lebenslangen Heimatstadt Königsberg geboren. Es gibt zu denken, dass der Geburtstag des sicher bedeutendsten Philosophen in deutscher Sprache am intensivsten im heutigen Kaliningrad zelebriert worden ist. Ein Staat, der hochrüstet und einen Angriffskrieg führt, vereinnahmt den Autor der in seiner weltberühmten gewordenen Denkschrift 1795, für einen „ewigen Frieden“ zwischen allen Staaten als „höchstes Gut“ argumentiert.

[40] Zum Begriff Autopoesis, dort für soziale Systeme: ·  Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main

[41] Näher ausgeführt in Hartwig Berger, „Entgrenzte Städte – zur politischen Ökologie des Urbanen“, Münster 2003, Kap. 4.

[42] A.v. Humboldt, Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. In: Ansichten der Natur, Stuttgart 1969, S.66

[43] Martin Nizhoní Gollner-Marin: IKCE WICASA – Der Überlebenskampf der Lakota und die Liebe zur Weisheit, Dissertation, Freiburg, 1994.

[44] Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018; Bruno Latour und Nikolaj Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse, Berlin 2022.

[45] Zur Entstehung…, S. 35.

[46] Zur Entstehung …, S. 41.

[47] Ich folge hier Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986.. Allerdings nicht seiner These, nach der diese Marginalisierung der zur „Umwelt“ degradierten „In-Welt“ zwangsläufig und unvermeidlich sei.

[48] Aus dem seitens des BMUNR beigefügten Infopapiers zur Biodiversitätsstrategie. Die NBS2030 wurde noch rechtzeitig zur weltweiten Biodiversitätskonferenz in Kolumbien fertiggestellt. Um verbindlich zu sein, muss sie von der Bundesregierung insgesamt beschlossen werden.

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