Publikationsliste: 6. Soziologie und Politik der Arbeitseinwanderung

Einwanderung und Alltagskultur. Die Forster Straße in Berlin-Kreuzberg
Publica. Berlin 1984, 128 S.

Nach meinem Intermezzo an der Universität Amsterdam(1978-80) habe ich mich in Berlin zunächst mit berufsvorbereitendem Unterricht für Jugendliche aus der Türkei „durchgeschlagen“, zugleich neben den Aktivitäten im „Aisländerkomitee“ zeitweise ehrenamtlich an Gemeinwesenarbeit in einem Kreuzberger Kiez mitgewirkt. Die „IBA“(eine Gesellschaft zur Stadtsanierung) hat mir deshalb für ein zweimonatiges Honorar die Erarbeitung einer Studie finanziert. Ergebnis ist dieses Buch, dessen einziger Autor ich bin (Der im Buchtitel zuerst genannte Victor Augustin hat vieles an Informationen geliefert, aber nicht mitgeschrieben).

Ich halte es auch im Rückblick für eine gelungene Fallstudie, auch wenn sie vielleicht in Vergessenheit geraten ist. Sie konzentriert sich auf einen Straßenabschnitt und stellt dar, wie Einwanderungen in drei historischen Phasen die jeweilige Alltagskultur geprägt haben: Die erste mit den nach Berlin zuwandernden Arbeiter- oder zu Arbeitern gewordenen Familien ab Ende des 19. Jahrhundert und die Ausbildung einer stark klassenspezifischen Alltagskultur bis weit in die Nachkriegszeit. Nach dem massiven Fortzug von Familien aus diesem Sozialkreis dann der Zuzug vieler ebenfalls Arbeiterfamilien aus der Türkei und teilweise dem Libanon und ihre kulturellen Auswirkungen. Schließlich die Alternativszene zuziehender meist junger Leute etwa in der Zeit der Untersuchung.

Die Darstellung ist durch die Gespräche mit Bewohnern, Dokumenten aus Bauakten etc., Schilderung von Episoden und Fotos veranschaulicht. „Wissenschaftlich“ stellt sie am Fallbeispiel die Bildung klassenspezifischer Kulturzusammenhänge im großstädtischen, stark verdichteten Wohnbereich dar. Dabei werden Ähnlichkeiten zwischen der Alltagskultur der um und vor 1900 erstmalig zugezogenen und die der seit Ende der 60er Jahre zugewanderten anatolischen Einwanderern, beide vorwiegend ländlicher Herkunft festgestellt. So illustriere ich meine generell vertretene These, dass stärker als ethnische und religiöse Hintergründe die Klassenlage Lebensgewohnheiten und Alltagskultur prägen. Ich habe das in mehreren Artikeln der folgenden Jahren ausgeführt (s.u.). Die etablierte Forschung zur Arbeitseinwanderung hat das nicht aufgegriffen. Dazu fehlten mir die Kontakte in die scientific community, ich habe sie auch nicht ernsthaft gesucht.

In het begin wilde men zo´n arme donder wel eens wat uitleggen

ist eine Kurzdarstellung des Buchs plus Interview dazu mit mir. Sie wurde im August 1983 in „de Groene Amsterdammer“ veröffentlicht, einem niederländischen Pendant der „Zeit“. Entstanden ist das nach einem Vortrag, den ich über „rassismus in oude woonwijken“ in Amsterdam gehalten habe.

Ein sehenswertes Ergebnis war die Broschüre
Aber kämpfen musst Du schon! – Kulturelle Identität und Kulturarbeit von Ausländern in Berlin, 1982.

Sie ist ein Gemeinschaftswerk von Mitgliedern des „Ausländerkomitee Berlin (West)“, wobei Micaela Haas und ich das meiste zusammengetragen und geschrieben haben. In ihren Analysen, persönlichen Berichten, Illustrationen und politischen Forderungen ist die Broschüre unverändert lesenswert. Wir haben sie in einer Zeit geschrieben, als mit dem CDU-geführten Senat seit 1981 eine deutliche Verschlechterung für Einwanderer in West-Berlin zu erwarten war. Wir vertraten die These, dass die Politik einer Mischung aus Hinausdrängen und Assimilationsdruck eher zu einer kulturellen Abschottungen in Teilen der Einwanderer-Szene führt.

„Sie (aber) sollen und können nicht in die Hülle „des Deutschen“ (welcher Kultur?) schlüpfen. Ihre Identität finden sie nur in der Auseinandersetzung mit und zwischen den Kulturen – denen oder der, in der sie leben, denen oder der, aus der sie kommen. Zentral in der Auseinandersetzung wird sein, dass Arbeitseinwanderer gegen ihre rechtliche und soziale Benachteiligung angehen“ – daher auch unser kämpferischer Titel.

Eine zweite Schrift, die aus den Aktivitäten des Ausländerkomitees entstand, ist das Buch:
Gast oder Last? Berichte zur Lage der Asylbewerber, Express Edition 1981.

Es ist, hauptsächlich mein Werk, in enger Zusammenarbeit mit Asylbewerbern aus Pakistan und dem leider verstorbenen Kemal Kurt( später als Schriftsteller und Fotograf bekannt), der viel dazu beigetragen hat. Es trägt Berichte, Interviews, Dokumente zusammen, die wir recherchiert und gesammelt haben. Sie stellen dar, unter welchen harten und ausbeuterischen Umständen Asylbewerber im damaligen West-Berlin leben musste, Zustände in Wohnheimen, welche diesen Namen nicht verdienen, deprimierende Gefangenschaften in der Abschiebehaft, Ausnutzung durch skrupellose Anwälte und eine miese Behandlung der Flüchtlinge durch Behörden. Wir wollten „dieses schmutzige Handwerk von Behörden und Geschäftemachern öffentlich anprangern und damit hoffentlich für die Zukunft erschweren“.

Erwähnen will ich auch die Broschüre über die Auswirkungen des Berliner Ausländererlass von 1981-1982
„Wir sind keine befristeten Menschen“.

Es war eine Zeit, in der viele Familien aus der Türkei ihre Kinder, die bis dahin z.B. bei den Großeltern aufgewachsen waren, nach Berlin holten. Sie taten das einmal, weil die Bundesregierung für alle nicht in Deutschland lebenden Kinder das Kindergeld drastisch gekürzt hatte, zum zweiten mit dem Kalkül, dass sie, nachdem sie das Jugendalter erreicht hatten, hier ihren Lebensunterhalt verdienen können. Dagegen richtete sich der Ausländererlass des Senators Lummer (unseligen Angedenkens), der aus heiterem Himmel als Regelfall eine Rückkehr der jungen Leute, sofern volljährig geworden, in ihr Heimatland verfügte. Zufälligerweise erlebten wir die erste Bekanntgabe des Erlasses in einer Ausschusssitzung des Abgeordnetenhauses, die ich mit einer Klasse Jugendlicher aus Fortbildungsmaßnehmen (ich arbeitete dort als Lehrer) besuchte. Wir haben Proteste gegen diesen skandalösen Erlass, mitorganisiert und dadurch mit zu Fall gebracht. In der Broschüre habe ich die empirische Recherche „Ausländerpolizei in Aktion“ gemacht und geschrieben (Kapitel III)

Überlegungen und Erfahrungen aus der Broschüre zur kulturellen Identität und dem Forsterstraßen-Buch habe ich in mehreren Artikeln zur kulturellen Identität und zum Rassismus in Wohnvierteln in deutschen wie in niederländischen Zeitschriften ausgeführt:

Kulturelle Identität und Wohnverhalten., In: Neue Praxis 3,1983, Sonderheft „Sozialarbeit und Ausländerpolitik“, 17S.

Niet het verschil maar de herkenning. Racisme in oude woonwijken, In: Marge ( Zs. in den Niederlanden), Jg. 8, Heft 4, 1984, 17S.

Tussen Afyonkarasihar en Berlijn. In: De Groene Amsterdammer, Jg. 108, Nr.23, 1984.

Rassismus in Berliner Altbauvierteln. In: Ausländerkinder. Forum für Schule und Sozialpädagogik, Heft 21, Freiburg 1985, 13S.

Pauschal zusammengefasst, erklären diese Aufsätze den weit verbreiteten Rassismus unter der deutschen Arbeiter- und unteren Mittelklasse aus „ Ängsten und Abwehrreaktionen, die eigene ungelöste Sozialprobleme zum Ausdruck bringen. Rassismus ist daher weniger eine Frage der kulturellen Andersartigkeit, sondern eher ein Symptom für Spannungen und Frustrationen im eigenen Sozialmilieu…. Deutsche fühlen sich im Wohnquartier nicht deshalb nicht zu Hause, weil dort so viele Menschen aus anderen Ländern leben. Eher lehnen sie diese Menschen ab, weil sie sich im eigenen Wohnviertel nicht mehr zu Hause fühlen (mit und ohne Einwanderer)“.

Die damals weithin festgestellte Apathie von Einwandererfamilien im und gegenüber ihren Wohnbereichen (Hauptthema im Aufsatz 1983) erkläre ich aus unbewältigten Identitätskrisen und Entfremdungen, verstärkt durch Rechtlosigkeit und soziale Benachteiligung. Die hoffnungsvolle Perspektive ist: „gemeinsam mit den Zugewanderten für ein Wohnquartier kämpfen, in dem es sich leben lässt“.
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Von 1976 bis 1983 war ich – mit der zweijährigen Unterbrechung „Amsterdam“ sehr aktiv im Ausländerkomitee Berlin, das die Aktivitäten von vielen links orientierten Vereinen und Organisationen koordinierte. Ich habe – im Rückblick: leider – meine Arbeit dort eingestellt bzw. verlagert, weil ich durch die nukleare Aufrüstung der USA und der UdSSR gegeneinander extrem alarmiert war, ja fast in eine apokalyptische Stimmung geriet. Hinzu kam die schwere ökologische Krise, damals insbesondere die „friedliche“ Atomkraftnutzung, das Waldsterben und die ersten Berichte über eine Klimakrise in naher Zukunft. Daher gründete ich mit anderen Eltern aus der Grundschule meines Sohnes eine sehr aktive Friedensgruppe, aus der eine noch aktivere BI „Atemberaubendes Charlottenburg“ erwuchs.

Dass ich bei diesen praktischen commitments keine Zeit fand, Kontakte zur scientific community zu pflegen, versteht sich. Es gab gleichwohl mehrere gescheiterte Versuche, wie Bewerbungsvorträge an Universitäten, mal ein Vortrag bei der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – und ein gescheiterter Projektantrag ( gemeinsam mit Hans-Günther Kleff und Micaela Haas), dem folgender Artikel „entsprang“:

Arbeitseinwanderer und Bürokratie. In: Ethnizität und Migration 1/ 1990

Keine wegweisende Schrift, da sie vor allem einen Über- und Einblick in die einschlägige Literatur zum Thema gibt, eine Art Abfallprodukt des Forschungsantrags, den ich 1986(?), für sechs Monate finanziert, bei dem FU-Professor Wollmann ausgearbeitet hatte. Geplant war mit den beiden genannten KollegInnen eine empirische Studie mit qualitativem Ansatz und Aktionsforschung, die Formen von institutioneller und sozialer Diskriminierung von Arbeitseinwanderern und Flüchtlingen durch Verwaltungen und Verwaltungshandeln erfassen und analysieren sollte. Der Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft wurde abgelehnt, wobei wahrscheinlich Distanz und Vorurteile zu der von mir vorgeschlagenen Aktionsforschung ausschlaggebend waren.

Lebensgeschichtlich war dieses „nein“ neben der Ablehnung als Hochschullehrer an der FU (siehe „interkulturelle Erziehung“.) der endgültige Abschied von der „Migrations“soziologie (ich ziehe den zutreffenden „Einwanderung“ vor). Dass 20 Jahre später, im Jahr 2008, mein Antrag eines Aktionsforschungsprojekts zum Umgang von Arbeitseinwanderern mit Energie, gemeinsam gestellt mit Wolf Schluchter, Hochschullehrer für Humanökologie an der Universität Cottbus, Günther Kleff und Ludmila Hanisch, wieder scheiterte, war ein etwas absurder Nachklang – nach langjährigem Engagement sowohl in der Soziologie der Arbeitseinwanderung, in Aktionsforschung und der Energiepolitik.
Meine drei letzten Artikel zur „Migrations“soziologie sind eine Herausforderung an den damaligen mainstream, analytisch und konzeptionell halte ich sie für das Beste, was ich in diesem Bereich geschrieben habe:

Interkulturelle Beziehungen und ethnische Diskriminierung im Spätkapitalismus. In: Peripherie 24, 1986, 12S.

Arbeitswanderung im Wandel der Klassengesellschaft, 1987. In: Migration, eine europäische Zeitschrift, Berlin, Bd.1, 1987

Vom Klassenkampf zum Kulturkonflikt. Wandlungen und Wendungen der westdeutschen Migrationsforschung. In: Dittrich/Radtke Hrsg., Ethnizität, Wissenschaft und Minderheiten, Opladen 1990.

Ich kritisiere in diesen Artikeln in jeweils unterschiedlicher Weise damals vorherrschende Hauptrichtungen in der Migrationsforschung. Ich plädiere dafür, den Schwerpunkt in Empirie und Interpretation auf die soziale Lage, also die alltäglich erlebten und erlittenen Situationen im Arbeits-, Wohn und sonstigen Lebensbereich der Arbeitseinwanderer zu legen. Dabei seien Prozesse der Ausgrenzung und der Marginalisierung besonders zu beachten. Ohne dass es mir damals bewusst war, folge ich hier dem soziologischen Ansatz, wie ihn Pierre Bourdieu propagierte.

Inhaltliche Defizit der damaligen Forschung sehe ich darin, dass sie folgende Aspekte nicht oder zu wenig beachtet:

  • dass und wie sich mit der Arbeitseinwanderung sowohl Herkunfts- wie „Gast“gesellschaft wandeln. Zum ersteren habe ich meine konkreten Erfahrungen aus Andalusien im Auge, zum zweiten etwa die „Unterschichtung“ im Arbeitsprozess dadurch, dass die „Gastarbeiter“ die schlechtesten Jobs zugewiesen bekamen; oder der mit der Zuwanderung in den Wohnvierteln zugleich stattfindende Zerfall alter Klassenkulturen.
  • Die Rolle, die das Leben unter spezifischen Wohnverhältnissen und der Wohn- wie Arbeitssituation im Herkunftsgebiet für die Bildung hiesiger Alltagskulturen und Sozialbeziehungen spielen. So gelingt es, in den ländlichen Herkunftsgesellschaften ein lebendiges Verhältnis zur räumlichen Umgebung herzustellen, dass sich so nicht mehr beim leben in den hiesigen Großstädten realisieren lässt.

Die bürokratische Regulierung der Einwanderung und ein sich damit entwickelnder „institutioneller Rassismus“

Die Artikel sind dicht und zusammenfassend geschrieben. Es wäre besser gewesen, mehr an Beispielen zu veranschaulichen, aber die redaktionellen (Raum)Vorgaben der Zeitschriften waren dafür zu eng. Der Arbeitsaufwand für eine ausführliche Studie hätte sich gelohnt. Das erledigte sich u.a., nachdem und weil ich über meine umweltpolitischen Aktivitäten für die Alternative Liste im März 1989 in das Abgeordnetenhaus (West-) Berlin gewählt wurde. Mit meinen dortigen Aufgaben als umweltpolitischer Sprecher verlor ich den Faden zu diesem langjährigen Arbeitsbereich.


Beiträge:

1. Wissenschaftstheorie – lesen…

2. Methoden der Sozialforschung – lesen…

3. Sozialforschung in Andalusien und Artikel in spanischer Sprache – lesen…

4. Theorie der Arbeiterbewegung – lesen…

5. Schriften in den Niederlanden – lesen…

6. Soziologie und Politik der Arbeitseinwanderung

7. Interkulturelle Erziehung – lesen…

8. Ökologie und Umweltpolitik – lesen…

9. Bosnien/Kosovo – lesen…

10. Brandenburg und Berlin – lesen…

11. Europa und „Benachbartes“ – lesen…

12. Atompolitik – lesen…

13. Energie- und Klimapolitik – lesen…

14. Entgrenzte Städte – lesen…

15. Der lange Schatten des Prometheus – lesen…

16. Veröffentlichungen in der Folge des „Prometheus“ – lesen…

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