Vortrag in Treptow-Köpenick vom 26.09.08
von Hartwig Berger
Konferenz „15 Jahre kommunale Agenda 21“
Verwundbarkeit und Verantwortung
Zur globalen Bedeutung nachhaltiger Stadtentwicklung
These dieses Beitrags ist:
Die Zukunftsfähigkeit einer Stadt wie Berlin steht vor allem deshalb in Frage, weil und insofern der urbane Stoffwechsel die Lebensbedingungen in anderen Regionen der Erde verschlechtert. Ich spreche dafür, dass dieser Gesichtspunkt stärker als bisher in Diskursen und Programmen zur kommunalen Agenda 21 Beachtung findet..
1. Die Verwundbarkeit von Städten
Das Paradigma unseres Bild von Stadt und Urbanität hat sich in der mediterranen Antike entwickelt. Auch wenn moderne Städte von gänzlich anderer Art sind als Athen, Milet, Karthago oder Alexandria, können wir deshalb aus antiken Diskursen zur Gestalt und Organisation von Städten lernen. So stellen Platon und Aristoteles eingehende Überlegungen zu Gründen und Faktoren an, die Stadtgesellschaften stabil und dauerhaft oder labil und hinfällig machen.
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Platons Unterscheidung zwischen einer maßvollen ( oder „gesunden“) und einer üppigen ( oder „aufgeschwemmten“) Stadt. Als üppige Stadt würden wir im heutigen Sprachgebrauch eine Kommune bezeichnen, die einen hohen Stoffwechsel, übermäßigen Konsum und damit einem erhöhten Bedarf an Gütern aufweist. In feinsinniger Ironie fügt Platon hinzu: „Und auch Ärzte werden wir bei der dortigen Lebensweise weit häufiger nötig haben, als in einer maßvollen Stadt.“
Für Platon ist der überhöhte Stoffwechsel und damit Güterbedarf einer üppigen Stadt ein Hauptgrund für die Entstehung von Kriegen in seiner Zeit.
Bis in die europäische Neuzeit war Babylon das Paradebeispiel für eine maßlose Stadt. Hintergrund dafür ist der geistige Einfluss des Alten Testaments, das als Folge der Unterwerfung und Deportierung der jüdischen Gesellschaft unter der Herrschaft Nebukadnezars ein Negativbild von Babylon zeichnet. Symbol dafür war der berühmte Turm. Die Dimensionierung dieses Bauwerks, der als gedachte Brücke zwischen Himmel und Erde eine primär religiöse Bedeutung hatte, wurde von Juden und später Christen als Herausforderung Jehovas verurteilt. Ein zweiter Grund für die Qualifizierung Babylons als maßlos gewordener Stadt waren die Legenden über einen sittenlosen und verschwenderischen Lebenswandel. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Auftritt der „Hure Babylon“ in der Apokalypse des Johannes.
Die Geschichtsforschung wertet das Babylon-Bild des christlichen Abendlandes als typische projektive Verzerrung – Wünsche und Befürchtungen aus der eigenen Lebenswelt werden einer historischen wie räumlich fernen Stadt untergeschoben .Nach heutiger Erkenntnis war Babylon vielmehr als Stadt, die so gut und lebensfähig organisiert, dass sie über mehrere Jahrtausende existierte und florierte konnte und erst durch äußere Gewalteinwirkung zugrunde ging. Ein wesentlicher Grund dafür war die durchaus als zukunftsfähig zu qualifizierende Regelung ihres Stoffwechsels, der Umgang mit der Wasserführung des Euphrats, mit Wasser generell und ein ausgeklügeltes und gut den Umweltverhältnissen angepasste Landbewirtschaftung.
Dagegen finden sich in der Antike gerade in und im Umkreis Mesopotamiens viele Städte, die in Folgeeiner falschen und kurzsichtigen Gestaltung ihres Stoffwechsels nieder- oder untergegangen sind. Diese Städte, nicht das weit größere Babylon, eignen sich , um negative Folgen maßloser Urbanität zu illustrieren. So hat die Archäologie in der genannten Region Städte entdeckt, die von einer dicken Erdschicht aus ursprünglich Schwemmland bedeckt sind. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Ur. Solche Städte lagen zumeist in Bergzonen oder benachbart an Berghänge. Man erklärt ihren Untergang als Folge einer verfehlten Nutzung ihrer Umgebung, vor allem der Abholzung von Bergwäldern oder einer Landwirtschaft, die die Böden versalzen ließ. Die Städte entzogen sich schrittweise ihre Nahrungsgrundlage, in Extremfällen führte die Bodenerosion in Hanglagen zu Bergrutschen, die den Ort unter sich begruben.
Wir haben es hier mit Beispielen selbst verursachter Verwundbarkeit von Städten zu tun, Prozessen ungewollter Selbstzerstörung, die sich schleichend – etwa durch Degradierung der Böden – oder in Form katastrophaler Ereignisse – wie Erdrutschen – entwickeln.
An vielen Städten lässt sich heute die schrittweise Steigerung der eigenen Verwundbarkeit beobachten. Als ein Beispiel nenne ich den Umgang von Mexiko-City, einer der bevölkerungsreichsten Ballungszentren der Erde, mit seinen Wasserressourcen:
Mexiko City ist eine Metropole mit enormen Wachstumsraten. 1940 wurden hier 1,6 Millionen Bewohner geschätzt, 1980 schon 14 Millionen und im Jahr 2000 über 20 Millionen. Niemand kennt die genaue Zahl der Zuwanderer in den Blechhütten und Elendsquartieren.
Mit dem urbanen Wachstum wurden die Wasserprobleme der Stadt immer größer – und unlösbarer. 70% seines Bedarfs pumpt die Stadt aus dem Untergrund. Sie leert damit die Grundwasserspeicher doppelt so schnell, wie natürliche Zuläufe sie auffüllen können. Zudem verringern die fortschreitende Bebauung und Versiegelung den Zulauf durch Niederschläge. Es entstanden Hohlräume unter der Erde, in die Stadtteile allmählich versinken. Verschlimmert wird das dadurch, dass Mexiko auf dem schlammigen Untergrund eines zugeschütteten Sees der Azteken gebaut ist. Zahllose Häuser weisen Risse aus , die unterirdischen Wasserrohre bersten im instabilen Boden, ein Drittel des Trinkwassers geht so verloren. Je mehr die Stadt wächst und zusätzlich Wasser benötigt, desto schneller versinkt sie.
Um die Not zu mildern, bezieht Mexiko zunehmend Wasser aus der Ferne. Damit werden ganze Regionen ausgetrocknet. Aus Stauseen, die bis zu 300 km entfernt liegen, wird Wasser unter hohem Energieaufwand in die 2.300 m hoch gelegene Metropole gepumpt. In den betroffenen Gebieten verdorren die Felder, noch mehr Bauernfamilien müssen ihr Land aufgeben und ihr Auskommen in der Megastadtsuchen. Auch dadurch erhöht sich dort der Wasserbedarf: ein Teufelskreis der Urbanisierung.
Weitaus typischer insbesondere für Städte der altindustriellen Hemisphäre, also z.B. für Berlin, ist jedoch die Entgrenzung und Verlagerung der Überbeanspruchung von Ressourcen in räumlich weit entfernte Regionen. Der Stoffwechsel einer Stadt wie Berlin stützt sich ganz überwiegend auf Ressourcen, die nicht in der Stadt oder in ihrer näheren Umgebung gewonnen werden. So stammen in Berlin rund 90% der Nahrungsmittel nicht aus der Region und – mit Vorprodukten – nur zu rund 70% aus Europa. 80-90% der Energieträger sind außereuropäisch importiert ( wobei der hauptsächlich verwendete heimische Energieträger – die Braunkohle – zu besonders schädlichen Umweltwirkungen führt).
Diese Form der globalen Überbeanspruchung ist anschaulich gut am ökologischen Fußabdruck darstellbar( der besser: ökologischer Elefantentritt genannt werden sollte):
Bild 1 Ökologischer Fußabdruck von Berlin
Der „Fußabdruck“ bilanziert den Umwelt- und Naturverbrauch zum Beispiel einer Stadt, indem alle Energie- und Stoffströme der betrachteten Einheit in Land- und Wasserflächen umgerechnet werden, die nötig sind, um diese Inanspruchnahme von Ressourcen aufrechtzuerhalten. Der Grundgedanke ist einfach: Für die Herstellung aller Güter, die eine Stadtgesellschaft jährlich verbraucht, benötigt sie bestimmte Naturressourcen, die sich alle als Nutzung der begrenzten Erdoberfläche darstellen lassen. Für Wohnung, Gewerbe und Straßenbau wird Fläche in Anspruch genommen; die Nahrungsmittel werden angebaut, der Fleischkonsum erfordert Weide- und Futtermittel und damit Flächen zur Aufzucht der Tiere. Auch Baumaterial und der Verbrauch an Metallen sind teilweise als Nutzung von Erdoberfläche darstellbar. Vor allem aber kann der Verbrauch an fossilen Energien durch die Waldfläche veranschaulicht werden, die nötig wäre, um eine vollständige Absorption des emittierten Kohlendioxids zu gewährleisten.
Im Fall Berlin nimmt der ökologische Fußabdruck eine kreisförmige Fläche ein, die von der Grenzregion zwischen Tschechien bis zur Insel Rügen reicht und die jeweils die Städte Poznan und Hamburg berührt. Insgesamt umfasst er 150.000 qkm, das entspricht dem 168fachen der Stadtfläche. Der Kreis hat einen Radius von 219 km, seine zu nutzende Fläche müsste unbebaut und folglich unbewohnt bleiben. Neuere Erkenntnisse zu Umweltbelastungen, die der urbane Stoffwechsel verursacht, würden wahrscheinlich dazu führen, dass der Fußabdruck noch umfangreicher zu denken ist.
Eine weitere Verschärfung ergibt sich durch den generellen Rückgang der Biokapazität – oder Bioproduktivität – auf der Erde. Mit diesem Begriff ist die Fähigkeit der organischen Welt in einem bestimmten Gebiet gemeint, sich zu regenerieren. Nach Berechnungen lag die jährliche Bioproduktivität nur bis 1987, bei fallender Tendenz, über der jährlichen Inanspruchnahme durch die Menschheit. 1988 war der Schnittpunkt erreicht; seitdem wird die Biosphäre der Erde von den Menschen stärker genutzt und verbraucht als sie sich regenerieren kann – bei bisher jährlich steigender Tendenz. Im Jahr 2008 war der „Welt-Überschuss-Tag“, das Datum an dem der menschliche Verbrauch die jährliche Biokapazität zu überschreiten beginnt, bereits am 23. September .
Bild 2: Rückgang der Biokapazität
Rund 80% der Nutzung natürlicher Ressourcen erfolgt durch die Städte der Erde, wobei vor allem die Städte der postindustriellen Länder für die Überbeanspruchung verantwortlich sind. Negativ betroffen davon sind vor allem arme und verarmende Weltregionen. Sehr deutlich machen das die bisherigen Auswirkungen des Klimawandels und Szenarien seiner künftigen Entwicklung, die zeigen, dass überwiegend Entwicklungsländer unter Überschwemmungen, Stürmen, Wüstenbildung und einem Rückgang der Bodenfruchtbarkeit leiden.
Die Lehre, die wir daraus für die Lokale Agenda 21 von Städten wie Berlin ziehen ist:
- Wir müssen immer die Vernetzung mit anderen Weltregionen beachten und die Wirkungen, die unser Stoffwechsel, unser Wirtschafts- und Sozialhandeln auf andere Regionen hat.
Wenn wir dazu eine Maxime nachhaltiger Entwicklung formulieren wollen, kann sie wie folgt lauten:
Die Aktivitäten einer Stadt und die Gestaltung ihres Stoffwechsels dürfen nicht dazu führen, dass durch ihre Voraussetzungen oder ihre Wirkungen die Lebensbedingungen in anderen Regionen der Erde nachteilig verändert werden. In seiner zeitgemäßen Anwendung bedeutet „maßlose“ ( oder nicht-nachhaltig organisierte) Stadt, dass sie dieser Maxime nicht folgt. Maßvoll – oder „nachhaltig“ – organisiert ist eine Stadt umgekehrt vor allem dann, wenn ihre Aktivitäten und ihr Stoffwechsel keine – oder zumindest keine signifikant nachteiligen Auswirkungen auf andere Regionen der Erde haben.
Dass Städte durch ihren Lebenswandel und für die Aufrechterhaltung ihres Konsums die Lebensbedingungen anderswo verschlechtern, ist allein aus ethischer Sicht verwerflich. Ein solcher Zustand widerspricht jeder sinnvollen Definition von internationaler Gerechtigkeit .
Zweitens ist dieser Zustand ein potentieller Faktor für Konfliktverschärfungen und die Entstehung von Kriegen. Und zwar einerseits aufgrund imperialer Ansprüche der Ressourcensicherung aus den „üppigen“ Weltregionen. (die Platon bereits für seine Zeit diagnostizierte), wie als Reaktion von Bevölkerungsgruppen in den benachteiligten Regionen, denen in einer Epoche weltweiter kommunikativer Vernetzung die Ursachen für verschlechterte Lebensbedingungen keinesfalls verborgen bleiben.
Drittens ist diese Konstellationen ( Nicht-Nachhaltigkeit in globaler Sicht) auf längere Sicht ein Weg der ungewollten Selbstzerstörung der „maßlosen“ Städte selbst. Und zwar entweder im direkten oder im indirekten Sinn. Direkt kann die globale Nicht-Nachhaltigkeit selbstdestruktiv sein, wenn sich z.B. durch weltweiten Klimawandel die Verhältnisse vor Ort dramatisch verschlechtern. Beispiel dafür ist die Gefährdung niederländischer Städte, von Bremen, New York, New Orleans und vieler Megastädte der südlichen Erdhälfte, die aufgrund steigender Meerspiegel ganz oder teilweise überflutet werden können. Indirekt destruktiv für Städte ist ihre nicht-nachhaltige Wirtschaft, insofern die Verschlechterung von Lebensbedingungen weltwirtschaftliche Zusammenhänge stört und zerstört und damit den Stoffwechsel der üppigen Städte, die sich von importierten Ressourcen abhängig gemacht hat, entscheidend beeinträchtigt.
Ich will darauf näher eingehen am Beispiel der
2. Welternährungskrise
Bild 3
Nach Berechnungen der UNO hat die Zahl der an Hunger bzw. Unterernährung Leidenden seit 2005 weiter zugenommen, nämlich von 854 Mio. Menschen 2005 auf 923 Mio. 2007. Zur Jahresmitte 2008 müssen wir aufgrund der massiv angestiegenen Lebensmittelpreise befürchten, dass rund eine Milliarde Menschen an Unterernährung und Hunger leiden. Für 33 Länder der Erde wird eine insgesamt alarmierende oder extrem alarmierende Situation der Unterernährung und des Hungers gemeldet . Hunger ist im Weltmaßstab die hauptsächliche Todesursache. 36 Mio. starben nach UNO-Schätzungen im Jahr 2000 an den Folgen von Hunger.
Hinzukommt mindestens eine weitere Milliarde Menschen, die von armutsbedingter Fehlerernährung, „verborgenem Hunger“, wie dem dauerhaften Mangel an wichtigen Mineralstoffen und/oder Vitaminen betroffen sind. Ihre Fehlernährung kann gravierende gesundheitlichen Folgen haben und die Anfälligkeit für Krankheiten erhöhen. So erblinden in Bangla Desh pro Jahr 30.000 Kinder infolge von Vitamin A Mangel.
In den kommenden Jahren sind weitere Zuspitzungen der Welthungerkrise zu befürchten, und zwar wegen des angesprochenen Rückgangs der Biokapazität, zunehmenden Ernteverlusten durch häufiger eintretende Naturkatastrophen und die weiter und beschleunigt fortschreitende Wüstenbildung und die Degradierung fruchtbarer Böden durch fehlgeleitete Landbewirtschaftung. Auch diese Prozesse werden sich vor allem in Weltregionen abspielen, die bereits jetzt stark von Hungerkrisen betroffen sind.
Gründe für die zugespitzte Hungerkrise sind:
- Spekulative Kapitalfonds, die nach den Zusammenbrüchen im Immobiliensektor vor allem im Ernährungssektor und auf dem Rohstoffmarkt expandieren. Offenkundig ist der Anteil von Kapitalfonds für Nahrungsmittel, die ihre Gewinnerwartungen an den Preisfluktuationen auf einem globalen Markt ausrichten, deutlich gewachsen. Eine kanadische Expertenzeitschrift beziffert den Anstieg spekulativer Fonds in diesem Sektor von 5 Mrd. Dollar 2000 auf 175 Mrd. Dollar 2007 . Getreide oder Reis, die in Regionen mit Überproduktion angekauft wurden, werden in Ländern mit Nahrungsmittelknappheit zu erhöhten Preisen weiter verkauft und führen damit zur weiteren materiellen Verelendung der armen Bevölkerung. Gegen diese Praktiken kann Stadtpolitik bzw. Lokale Agenda nicht direkt, allerdings jedoch bewusstseinsbildend oder durch öffentlichen Druck weiterhelfen. Spekulative Finanzaktionen auf dem Nahrungsmittelsektor können und müssen durch weltweite Regulierung unterbunden werden. Es sollte ein Kernanliegen der Agenda 21 Bewegung in Kommunen sein, sich für ein Verbot spekulativer Kapitalfonds im Ernährungssektor zu engagieren und das für die unerlässliche Neuregelung nach dem Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte einzufordern.
- Der Wandel in den Ernährungsgewohnheiten in den zugleich wachsenden mittleren und oberen Sozialklassen in Entwicklungs- und vor allem Schwellenländern.
- Die stark wachsende Nachfrage nach Agrosprit für Kraftfahrzeuge und teilweise für die Stromerzeugung. Ein Mitarbeiter der Weltbank kam in einer aufsehenerregenden Studie im Frühjahr 2008 zum Ergebnis, dass der Boom auf diesem Energiemarkt die hauptsächliche Ursache für die seit einigen Jahren und besonders 2007/8 ansteigenden Preise für Nahrungsmittel sei . Die genauere Lektüre dieser mit allgemeinen korrelativen Berechnungen arbeitenden Studie kann die Einschätzung in der Schärfe nicht abdecken. So unterschätzt der Autor deutlich die Wirkung der spekulativen Finanzmärkte und des generellen Vordringens globaler Agrokonzerne in zuvor kleinbäuerliches Milieu. Gleichwohl ist zutreffend, dass in vielen Ländern gerade des Südens in signifikanter Zahl landwirtschaftliche Flächen, deren Erträge bisher lokale und regionale Märkte versorgten, in exportorientierten Energiepflanzen-Anbau umgewidmet worden sind. Da dem inneren Markt dadurch weniger Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, nimmt der Exportanteil zu. Hochschnellende Weltmarktpreise wirken sich dadurch um so stärker aus. Ohne Zweifel verschärft das die Versorgungskrise insbesondere der armen Bevölkerung in der betroffenen Regionen.
Ein viel diskutiertes Beispiel dafür ist die „Tortilla-Krise“ in Mexiko. Nach Einführung der Freihandelszone mit den USA gaben viele mexikanische Kleinbauern ihre Landwirtschaft auf, weil sie der überlegenen Konkurrenz der US-Agrokonzerne nicht gewachsen waren. Diese Konzerne wiederum stellten große Teile des Maisanbaus auf die Erzeugung von Agrosprit um, seit die US-Regierung infolge der Ölkrise großzügige Subventionen für diesen Energiesektor gewährt. „Nebenfolge“ dieser Politik war eine Verteuerung der Maisexporte nach Mexiko, die durch ein verringertes Angebot des inneren Maismarkts nicht kompensiert werden konnte. Der Preisanstieg des Grundnahrungsmittels traf die arme Bevölkerung vor allem der Städte existentiell.
Um die Mitverantwortung der Städte Europas an der Welternährungskrise besser zu verstehen, ist das folgende Schaubild hilfreich, das ich dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie verdanke.
Bild 4
Die Skizze verdeutlich zum einen, dass die Ernährung innerhalb der – im Jahr 2000 noch 15 – EU-Länder in deutlichen Anteilen landwirtschaftliche Flächen anderer Kontinente beansprucht. Dabei kommt es weniger auf das genaue Verhältnis und mehr auf die externe Bedarfsdeckung als solcher an. Mit der Erweiterung der EU um 12 Mitgliedsstaaten hat sich die Inanspruchnahme ferner Flächen quantitativ noch erhöht. Weitere Entwicklungen seit dem Jahr 2000 haben zudem das Problem verschärft. So führte die BSE-Krise 2001 zum Verbot der Fütterung von Tiermehl; das wiederum veranlasste die Viehwirtschaft, einen ohnehin hohen Bedarf an eiweißhaltiger Tiernahrung nun durch Import von Soja insbesondere aus Lateinamerika abzudecken. Zweitens hat sich der Nahrungsmittelimport durch eine schnell zunehmende Kultivierung von Flächen mit Energiepflanzen verstärkt. Die EU hat diesen Boom durch ihre Zielsetzung ausgelöst, bis 2010 knapp 6% aller Kraftstoffe durch Energieträger aus Biomasse zu decken. In Deutschland wurde dieselbe Entwicklung durch den finanziellen Anreiz der Steuerbefreiung für Agrosprit und seit 2006 durch Erlass einer Beimischungsquote angeheizt. Allein die europaweite Agrosprit-Quote von 6% erhöht nach Schätzúngen von Experten den Anteil der landwirtschaftlichen Fläche für energetische Zwecke auf 5-16% der landwirtschaftlichen Gesamtfläche.
Zum anderen erinnert das Schaubild darin, dass mit der wachsenden Weltbevölkerung die zur Ernährung jedes Erdenbürgers verfügbare Fläche selbst unter der wahrscheinlich zu optimistischen – Annahme zurückgeht, dass trotz der Folgen des Klimawandels die Menge an landwirtschaftlich genutzten Böden weltweit ansteigt. Die Ernährungskultur in den entwickelten Ländern – sekundiert durch einen analogen Wandel der Ernährungskultur der Mittel- und Oberklassen in Entwicklungs- und vor allem Schwellenländern – hat also zur Folge, dass sich die Welternährungskrise und der Zustand der Unterernährung bei armen Bevölkerungsschichten verschärfen. Zugespitzt wird diese Situation durch den wachsenden Bedarf an Kraftstoff von landwirtschaftlich genutzten Flächen. Die Dramatik mag das folgende Schaubild illustrieren:
Bild 5
Nahezu drei Viertel der Flächennutzung durch die Unionsbürger der EU gehen also auf den Konsum von Fleisch und von tierischen Produkten zurück. Die Schlussfolgerung, die Ernährungskultur fleischärmer und insgesamt vegetarischer zu gestalten, ist also kein Aufruf zur „Askese“, sondern Ergebnis einer nüchternen Diagnose der weltweiten Ernährungsprobleme, die sich mit einer weiterhin wachsenden Erdbevölkerung bei begrenzten landwirtschaftlichen Ressourcen weiter zuspitzen können. Wenn wir uns in den Metropolen des Nordens dieser Einsicht verschließen und die nötigen Konsequenzen eines Kulturwandel vermeiden, tragen wir – wenngleich ungewollte – zur Verschärfung der Welthungerkrise bei und gefährden damit auch die eigene Zukunft auf einer immer verwundbareren und konfliktträchtigen Weltgesellschaft.
Zum Abschluss möchte ich einem Missverständnis vorbeugen: Natürlich besteht eine kommunale Agenda aus vielerlei Programmen, Vorhaben und Handlungszielen, die rein lokaler Art sind und deren Verwirklichung kaum oder kaum merkliche globale Konsequenzen haben. Dieser Vortrag beschränkte sich hingegen auf den Aspekt der globalen Verantwortung in einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Deutlich sollte werden, dass diese Verantwortung nicht nur ethisches Postulat, vielmehr zudem angesichts sonst wohl unvermeidlicher Weltkonflikte eine Maxime klugen vorausschauenden Handelns ist. Auf lange Sicht ist die Wahrnehmung der globalen Verantwortung schlechterdings notwendig, um die Lebensfähigkeit und das Überleben einer Stadtgesellschaft wie Berlin zu sichern.