Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 3/2005
von Hartwig Berger
Die Gefahr einer gezielten Zerstörung von Atomkraftwerken ist seit 11/9/2001 deutlich gestiegen. Trotzdem wurden selbst unter der rot-grünen Regierung in Deutschland keine Konsequenzen gezogen, die Gefahr von Nuklearterror in Politik und Öffentlichkeit weitgehend ausgeblendet. Der Artikel untersucht Verlauf und Gründe dieses kollektiven Verdrängungsprozesses.
Inhalt
Zur Logik des Terrors
Fachanalyse als Handlungsaufschub
Kurzer soziologischer Erklärungsversuch
Handlungsaufschub, zweiter Teil
Erklärungsversuch, zweiter Teil
Nuklearterror und Öffentlichkeit
Nuklearterror und Politik
Für einen aufgeklärten Umgang mit Großrisiken
Zur Logik des Terrors
Markierte der Anschlag vom 11. September 2001 eine neue Stufe der Terrorgefahr? Im nachhinein ist nicht sicher zu klären, ob die aufprallenden Flugzeuge die Twin Towers „nur“, mit schrecklichen Folgen beschädigen – oder sie gezielt zum Einsturz bringen sollten. Es war nicht voraussehbar, ob der Kerosinbrand die inneren Stahlträger der Türme zum Schmelzen bringen und ob das Gewicht der darüber liegenden Bauteile den gesamten Bau zusammendrücken und zum Zusammenbruch bringen würde. Superbauten wie diese haben durch ihre Konstruktion ein hohes Potential an Selbstgefährdung, das die Zerstörung durch Anschläge potentiell vervielfältigt.
Es ist die innere Terror-Logik, das Selbstgefährdungspotential moderner Technik gezielt zu nutzen, die eine möglicherweise darauf zielende Strategie des 11.September 2001 zu einem Alptraum macht. Denn solche schlummernden Potentiale hat die Gegenwart überall zu bieten – ob es sich um den nicht auszuschließenden Einsturz von Brücken und Hochhäusern, Chemie- und Atomfabriken, Großtanker oder um militärisches Vernichtungsmaterial handelt.
Terror, der sich in größeren politischen Konfliktzusammenhängen entwickelt, kann man soziologisch als asymmetrischen Gewaltkonflikt definieren. Der einen Konfliktpartei fehlt dabei jegliche staatsrechtliche Legitimation der Gewaltausübung und sie verfügt auch nicht über einen öffentlich darstellbaren Apparat der Kriegführung. Den staatlich organisierten Gegenparteien ist sie an militärischer Schlagkraft klar unterlegen. Sie wird diese Asymmetrie durch Strategien der konsequenten Clandestinität, durch gesteigerte ideologische Mobilisierung ihrer Anhänger, durch verdecktes Handeln und Überraschungsschläge und auch durch Terror gegen Gruppen der Zivilbevölkerung auszugleichen suchen. Wenn ein Konflikt zeitlich andauert und im Zerstörungshandeln eskaliert, kann die clandestine Partei vor die Entscheidung gestellt sein, die Eskalation so fortzusetzen, dass sie ihre militärische Unterlegenheit durch Nutzung des Selbstgefährdungspotentials im gegnerischen Staat kompensiert. Sie wird überlegen, ob sie sich gezielt der Großrisiken im Land, der Technikstruktur oder der Siedlungsgebiete des gegnerischen Staats als Waffen bedient. Entscheidet sie sich gegen alle humanitären und moralischen Bedenken dafür, ist es „nur“ eine Frage der Strategie und der logistischen Fähigkeiten, ob z. B. Chemiefabriken mit tödlichen Giften zur Explosion gebracht, Trinkwasserreservoirs vergiftet, Viren in Umlauf gebracht – oder auch Atomkraftwerke zerstört werden.
Über das Ziel der vierten Maschine, deren Absturz alle Passagiere in den Tod riss, wurden nach dem 11.September viele Vermutungen angestellt. Als eine Hypothese war zeitweise der Reaktorkomplex „Three Miles Island“/Pennsylvania im Gespräch, der 1979 Schauplatz eines fast Super-GAUS gewesen ist. Inzwischen scheint festzustehen, dass das Weiße Haus in Washington das Angriffsziel war. Gefundene Dokumente belegen allerdings auch, dass in Al Qaida Kreisen über Angriffe auf Atomkraftwerke „nachgedacht“ wurde. Derlei Erwägungen wurden aufgrund der unabsehbaren und langfristigen Folgeschäden wieder verworfen.
A priori können wir nicht annehmen, dass das mögliche Ausmaß einer gezielt herbeigeführten Nuklearkatastrophe die potentiellen Akteure wirklich abschreckt. Im Kalkül des Terrors kann die Sprengung eines Atomkraftwerks – wenn sie gelingt – als eine fürchterliche und gerade deshalb wirkungsvolle Waffe angesehen werden. Spätestens seit dem 11. September müssen alle Industriegesellschaften, die über Atomanlagen mit hohem Selbstgefährdungspotential verfügen, jedenfalls die prinzipielle Möglichkeit solcher Angriffe in Betracht ziehen, sofern sie überhaupt Gründe zur Annahme haben, sie könnten zu einem Schauplatz asymmetrisch geführter Kriege werden. Und so war nach dem Angriff in den USA der mögliche Nuklearterror ein Gegenstand öffentlicher Debatten und staatlich eingeleiteter Überlegungen in vielen Ländern mit Kernkraftwerken. Wir wollen das am Beispiel Deutschland verfolgen und versuchen aus der Analyse zu lernen.
Nicht nur an der deutschen Debatte fällt auf, dass sie sich fast völlig auf den Angriffsfall mit gezielten Flugzeugbomben beschränkte und beschränkt. Aufgrund der Ereignisse in New York und Washington ist das menschlich nachvollziehbar, aus politikwissenschaftlicher Sicht jedoch unverständlich. Flugzeugbomben sind nur eine Form der Ausübung von Nuklearterror. Angriffe mit ihnen sind aufwendiger in der Vorbereitung und Realisierung als direkte Angriffe auf Nuklearanlagen. Eine 19köpfigeGreenpeace-Gruppe ist am 13.01. 2003 ungehindert und unbewaffnet in das AKW Sizewell in Großbritannien eingedrungen und erreichte selbst das Innere des Reaktorgebäudes. Erst nach 25 Minuten waren Sicherheitsbeamte zur Stelle! Es sei leichter, in dieses – für besonders sicher deklarierte – Atomkraftwerk zu gelangen als in einen Nachtclub der benachbarten Stadt Norwich, bemerkte der Aktionsleiter anschließend.
Ein weniger spektakuläres Beispiel: Eine Gruppe atomkritischer grüner Aktivisten steuerte am 10. September 2004 per Schiff direkt vor das AKW Philippsburg am Rhein, um dort mit einer Laserkanone einen Raketenangriff zu simulieren. Nichts hätte dem Realvollzug eines solchen Anschlags im Weg gestanden. Allerdings: einfacher wäre ein Überfall auf das Gelände selbst mit einer Gruppe gewesen, die Raketen oder Sprengstoff an sensible Punkte auf dem Reaktorgelände bringt und dort zündet. Allein die gezielte Zerstörung aller Kühlwasserleitungen würde die Kernschmelze herbeiführen. In solchen Szenaren ist nicht einmal eine suizidale Bereitschaft der Attentäter vorausgesetzt.
Fachanalyse als Handlungsaufschub
Die Möglichkeit relativ leicht durchführbarer Terroralternativen wurde und wird in der Politik wie in der Öffentlichkeit auffällig ausgeblendet: Das ist das Muster der „selektiven Unaufmerksamkeit“, die symptomatisch für den Umgang mit den selbsterzeugten Risikopotentialen der Moderne ist. Dieselbe – erklärungsbedürftige – Haltung finden wir in der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Flugzeugabstürzen. Zu Beginn der Debatte konnte in Deutschland allerdings von Verdrängung nicht die Rede sein. Es war kein Einzelbeispiel, wenn der zuständige Minister für Reaktorsicherheit in einer Bundestagsdebatte zwei Wochen nach dem 11.September erklärte:
„Nach dem 11.9. wird nie wieder jemand den Absturz eines Flugzeuges auf ein Atomkraftwerk als Restrisiko bezeichnen können. Und dass dieses Restrisiko als vernachlässigbar hinzunehmen sei, ist heute unverantwortlich“.
Den deutlichen Worten entsprach eine schnelle Reaktion des Ministeriums, das bereits am 17. September von einem für Reaktorsicherheit eingesetzten Beratungsgremium des Bundes-Umweltministeriums– der „RSK“ – eine Stellungnahme zur folgenden Frage einforderte:
„Sind die bestehenden Atomkraftwerke gegen gezielten Absturz von zivilen Großflugzeugen mit vollem Tankinhalt geschützt und welche Schadensszenarien sind zu erwarten?“
Im Lichte der bestehenden Regelungen und jahrzehntelanger Fachdiskussionen allerdings muss die Fragestellung dennoch überraschen. Welche Folgen Flugzeugabstürze haben können und welche Vorkehrungen möglich bzw. nicht möglich sind, war seit Beginn der „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie des öfteren Gegenstand von Tagungen, Expertisen und Experimenten. In Fachseminaren wurden bereits in den 70er Jahren zumindest in Deutschland Modellrechnungen vorgestellt und Annahmen über die Belastbarkeit von Anlageteilen entwickelt.
Festgestellt wurde dabei, dass eine ausreichende Sicherung bestehender und geplanter Atomanlagen selbst gegen kleinere Militärmaschinen nicht gewährleistet ist und dass es – ebenso wenig überraschend – über zu erwartende Schadensszenarien „noch“ keine zuverlässigen Annahmen gibt. Zu solchen Ergebnissen etwa kommt eine zweitägige Konferenz des eigens für Sicherheitsfragen gegründeten „Instituts für Reaktorsicherheit“(IRS) in Köln, Oktober 1974, für die das Tagungsprotokoll die stattliche Zahl von 500 Teilnehmern ausweist. Es gebe, so das Resumé auf der Tagung, bisher kein tragbares Risikokonzept zu Folgen und Vorkehrungen gegen Erdbeben und Flugzeugabstürze. Zitieren wir aus der „Zusammenfassung der Ergebnisse“:
„Das Wort „Risikokonzept“ beinhaltet die Vorstellung, dass man, ausgehend von einem vorgegebenen und allgemein akzeptierten Grenzwert für zumutbare Risiken, Sicherheitsanforderungen und damit verbundenen Mindestzuverlässigkeiten, maximale Fehlerfrequenzen und Versagenswahrscheinlichkeiten angeben kann, um so die Anlage auf ein minimales, aber zulässiges Risiko auszulegen (das „Restrisiko“- der Vf.). Von der Realisierung dieser Vorstellung sind wir, so glaube ich, noch weit entfernt. Man ist heutzutage schon recht froh, wenn man … zu Einzelaussagen kommt und einzelne Probleme in eine gewisse Beziehung zueinander setzen kann.“
Klarer und verständlicher formuliert: Die wissenschaftliche Sicherheitsanalyse zu Atomkraftwerken stocherte und stochert vorwiegend im Nebel. Diese beunruhigende Erkenntnis wird (nicht nur) auf der erwähnten Tagung mit der vielfach wiederholten Überzeugung verharmlost, dass ein Flugzeugabsturz extrem unwahrscheinlich sei. Im übrigens wurde nur der Fall eines schnellfliegenden Militärmaschine betrachtet und der Absturz eines Großraumflugzeugs explizit ausgeklammert. Dieses geschieht – unwidersprochen von den anwesenden 500 Experten! – in einer Zeit, als in Deutschland mehrere Atomkraftwerke im Nahbereich großer Flughäfen geplant oder bereits gebaut werden.
Im Jahr 1978 gibt die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ eine Kurzinformation über Schutzmaßnahmen gegen Flugzeugabstürze heraus. Der Anlass dazu war, dass im Sommer 1978 ein Militärflugzeug in unmittelbarer Nähe des AKW Würgassen abstürzte. Dem Bericht einer Fachzeitschrift zufolge wird dort zugestanden, dass alle deutschen Kraftwerke älterer Bauart – nach heutigem Stand(2005) sind das 9 Anlagen – nicht gegen den Absturz von Militärmaschinen gesichert sind. Allerdings würden sie ein nicht näher erläutertes „weites Spektrum an Stoßlasten abdecken“. Im internationalen Vergleich stehe die deutsche Bundesrepublik noch „am fortschrittlichsten da“. Im vereinigten Europa ist das keineswegs beruhigend, wenn wir in Rechnung stellen, dass die weltweit höchste Konzentration von Nuklearanlagen sich in Frankreich und Belgien, also in vorherrschend westlicher Windrichtung von Deutschland befindet. Der zitierte Artikel schließt mit dem Hinweis, dass die Folgen von Flugzeugabstürzen in simulierten Versuchen auf einer eigens errichteten Testanlage geprüft werden sollen.
Auch die Regelungen zum Reaktorbau stellen das beschriebene Sicherheitsdefizit nicht in Rechnung. So benennen die seit 1981 geltenden Leitlinien für Druckwasserreaktoren als hinzunehmendes Faktum, dass es ein „verbleibendes Risiko eines Flugzeugabsturzes auf das Reaktorgebäude eines Kernkraftwerks (gibt) sowie auf Gebäude, die im Hinblick auf die sichere Nachwärmeabfuhr geschützt werden müssen“. In der Folge werden verschiedene Maßnahmen dargelegt, die in der Erstellung der Anlage zu beachten seien, in der nicht näher ausgewiesenen Hoffnung, dadurch das Risiko einer Nuklearkatastrophe durch Abstürze zu vermindern.
Neue Erkenntnisse waren also nicht zu erwarten, als der Kommission die oben zitierte Frage gestellt wurde. Dass die Auslegung gegen Großflugzeuge keine Genehmigungsvoraussetzung ist, war vielleicht nicht der Laienöffentlichkeit, hingegen der fragenden wie der adressierten Institution bekannt und in den Genehmigungsunterlagen aller Kraftwerke nachzulesen. Über die möglichen Schadensszenarien gab es seit 30 Jahren Analysen und Experimente, mit dem naheliegenden Ergebnis, dass keine zuverlässigen Prognosen über die genauen Folgen eines Flugzeugabsturzes auf eine hochkomplexe Industrieanlage zu treffen sind. Wir wissen nun einmal nicht im voraus , ob die Wucht der vom Absturz herausgebrochenen Betonteile aus der rund 1 m dicken Außenhülle ausreicht, um anschließend die 4 cm dicke innere Stahlhülle des Reaktordruckbehälters zu durchdringen und die Brennstäbe so schwer zu schädigen, dass es zur gefürchteten Kernschmelze kommt; ob die im Reaktorhaus umherfliegenden Teile die Kühlmittelleitungen zerstören und dadurch eine Kernschmelze bewirken; ob die Kühlleitungen aufgrund der induzierten Erschütterungen reißen; ob es zu weiter zerstörenden Explosionen kommt; ob die freigesetzten und brennenden Massen an Flugbenzin die innere Einrichtung so weit „durchlöchern“, dass die ungeheuren Mengen an Radioaktivität aus der Kernschmelze ungehindert ins Freie dringen kann.
Ich bezweifle im übrigen, dass es von hoher Rationalität zeugt, Szenarien zu einem derart komplexen Ereignis durch zeit- und kostenaufwendige Experimente und Analysen zu entwickeln. Es ist nicht zu sehen, zu welchen praktischen Handlungsschritten das Anlass geben kann. Handlungsrelevant wäre hingegen die gezielte und strenge Überprüfung von Hypothesen, die von bestimmten Maßnahmen zusätzlicher Reaktorsicherheit eine Verbesserung des Schutzes gegen katastrophale Folgen eines Flugzeugsabsturzes erwarten lassen.
Eine Untersuchung dieser Art suchen wir vergeblich. Bei einer nicht reduzierbaren Ungewissheit über die wirklichen Folgen eines Aufpralls wäre es rational, als Konsequenz des Flugzeugabsturzes den schlimmsten denkbaren Fall – nämlich eine Kernschmelze mit vollständigem Austritt des radioaktiven Potentials – hypothetisch anzunehmen und an dieser Hypothese dann das praktische Handeln zu orientieren. Dieses Prinzip eines „aufgeklärten Katastrophismus“ hat mit besonderer Klarheit der französische Philosoph Dupuy entwickelt:
„Orientiere dein Handeln an der Annahme, dass die schlimmste befürchtete Folge eines im Detail nicht vorhersagbaren Ereignisses eintreten wird. Dann hast du die relativ größte Chance, eben diese Katastrophe zu vermeiden.“
Auf diesen für das Leben in Risikogesellschaften vorgeschlagenen Handlungs-Imperativs kommen wir zurück.
Die Berichte der angefragten Sicherheitsgutachter stellen hingegen primär die Unklarheiten der erfragten Einschätzungen dar und formulieren einen Bedarf an weiterer Klärung, deren Erreichbarkeit allerdings aufgrund der Berichtsinhalte bezweifelt werden muss. „Erreicht“ wird nur, dass weiter analysiert und begutachtet wird – und im praktischen Handeln, dass Handlungskonsequenzen verschoben und vermieden werden. Der sich immer weiter differenzierende Anspruch an Analysen rückt die Hoffnung auf eindeutige Ergebnisse in immer weitere Ferne – und verstärkt das Hinausschieben von Handlungen der Risikoverringerung.
Ich illustriere diese These an der Erfüllung des oben benannten Auftrags an die „Reaktorsicherheitskommission (RSK)“ im Jahr 2001 sowie an den daraus abgeleiteten Folgeaufträgen:
Die angemessene Antwort auf die Frage, ob die deutschen Atommeiler gegen den gezielten Absturz von Großflugzeugen gesichert sind, wäre nach dem bisher inhaltlich Gesagten ein schlichtes „nein“. Es hätte hinzugefügt werden können: „Seit über 20 Jahren ist das bekannt und auch aktenkundig“. Auf den zweiten Teil der Frage nach den Schadensszenarien wäre eine angemessene Antwort: „vielfältige Ereignisfolgen sind möglich, die von einem vergleichsweise harmlosen Ablauf bis zur vollständigen Nuklearkatastrophe reichen. Der genaue Ereignisablauf kann selbstverständlich nicht vorausgesagt werden“. Hier ließe sich hinzufügen: „auch das ist seit über 20 Jahren bekannt“.
Antworten dieser Art erzeugen in einer mit dem Großrisiko lebenden Gesellschaft einen unmissverständlichen Handlungsdruck. Dieser Druck muss nicht zur von den Atomkraftgegnern vertretenen Konsequenz einer Abschaltung der Hochrisiko-Anlagen führen. Er kann prinzipiell auch in die bewusste Entscheidung münden, aus dann allerdings darzulegenden Gründen mit diesem enormen Risiko weiter zu leben. Oder er kann eine Debatte darüber auslösen, durch welche Maßnahmen das Risiko zumindest deutlich verringert werden kann. Nur weiteres Nichtstun ist mit Antworten dieser Art unvereinbar.
Genau diese Eindeutigkeit vermeidet der kurze Bericht der RSK, der der anfragenden Behörde am 27.11. 2001 zugestellt und per Internet auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Das „nein“ auf die erste gestellte Frage ist dem Text nur sehr indirekt zu entnehmen. Stattdessen wird positiv erklärt, dass die neueren AKWs „gegen die Auswirkungen eines postulierten zufallsbedingten Absturzes einer schnellfliegenden Militärmaschine (Aufprallgeschwindigkeit 774 km/h) geschützt seien. Aufgrund vorliegender Untersuchungen kann erwartet werden, dass (in diesen Kraftwerken) mindestens die mechanischen Belastungen abtragbar sind, die beim zufallsbedingten Absturz eines Verkehrsflugzeugs mittlerer Größe auftreten, wobei die Aufprallgeschwindigkeit bisher im Bereich von 350 bis 400 km/h unterstellt wurde.“
Diese Antwort ist klar ausweichend: Zunächst verschleiert sie den qualitativen Unterschied zwischen dem Absturz eines Düsenjägers und dem gezielten Aufprall einer vollgetankten großen Passagiermaschine vom Typ Boeing 747. Das Gewicht beider Flieger unterscheidet sich um das 20fache, der Tankinhalt an brennbarem Kerosin um das 36fache. Die kinetische Energie des Aufpralls der Boeing ist, bei gleicher Geschwindigkeit, also 20x höher. Der dann unvermeidliche Brand des Treibstoffs würde, folgen wir den Realerfahrungen der Twin Tower, mehrere Stunden dauern und bei den zu erwartenden Temperaturen von über 1000 Grad Stahlkonstruktionen zum Schmelzen bringen. Den Schutz gegen einen Düsenjäger mit dem Schutz gegen eine vollgetankte Boeing 747 oder gar gegen den Airbus A 380 mit seinem 28fachen Gewicht überhaupt vergleichen zu wollen, gleicht ingenieurtechnisch dem Unterfangen, am Aufprall eines Fahrrads an eine Mauer den Aufprall eines PKWs zu studieren.
Außerdem war nach den Folgen eines gezielten Absturzes im schlimmstenfalls rechten Winkel auf das Reaktorgebäude gefragt worden, wobei ein „Großflugzeug mit vollem Tankinhalt“ und natürlich von maximaler Geschwindigkeit unterstellt wurde. Die dann zwangsläufig negative Antwort wurde also vermieden. Der Bericht gibt lediglich an anderer Stelle zu, dass es für Szenarien der in diesem Fall möglichen Folgen bisher keine Untersuchungen gibt.
Auch ein weiteres nicht überraschendes Zugeständnis macht der Text: dass ältere Kraftwerke auch nicht gegen schnellfliegende Militärmaschinen gefeit sind. Dabei fällt im übrigen auf, dass der Angriff mit Raketen, der auch für neuere Kraftwerke zerstörerisch wirken könnte, weder hier noch in den Sicherheitsleitlinien zum Reaktorbau betrachtet wird, obwohl das zweifellos eine Option des Nuklearterrors wäre.
Der Bericht schlussfolgert nicht überraschend, dass „ohne vertiefende Analysen, die auch die anlagenspezifischen Auslegungen und sonstigen Schutzgrade der jeweiligen Anlagen berücksichtigen, verlässliche Aussagen zu Schadenszuständen nicht möglich sind.“ Und so ist es in der Logik der Handlungsvermeidung konsequent, dass er für „bauliche und technische Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzniveaus der Kernkraftwerke“ weiteren Untersuchungsbedarf formuliert. Man möge dazu „die zu erhaltenden Schutzfunktionen, den Schutzgrad für den Funktionserhalt, Schwachstellen hinsichtlich des Erhalts der vitalen Funktionen sowie Szenarien und Lastannahmen“ ermitteln. Das ist ein umfassendes und die Tätigkeit von technischen Experten vermutlich für Jahre ausfüllendes Arbeitsprogramm. Transponiert in die Ebene praktischen Handelns kann man ihm die zumindest latente Funktion unterstellen, Aktivitäten zur wirksamen Risikoverminderung in der Nuklearwirtschaft fürs erste zu verschieben.
Kurzer soziologischer Erklärungsversuch
Warum ist das Muster des Handlungsaufschubs im Umgang mit Großrisiken so wirksam? Eine dem Alltagsverstand naheliegende Erklärung aus ökonomischen oder weltanschaulichen Interessen überzeugt in unserem Beispiel wenig. Es wäre zu einfach, den Mitgliedern der RSK eine hinhaltende Einschätzung deshalb zu unterstellen, weil die Eindeutigkeit der sich aufdrängenden Antwort eine öffentliche Debatte um die Fortsetzbarkeit dieser Großtechnologie auslösen würde und diese aus ihrer Sicht nicht erwünscht sei. Diese Unterstellung einer absichtlichen Täuschung oder Beschönigung, wäre gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Fachkunde in der Kommission arbeiten, ohne zusätzliche empirische Belege nicht zulässig und auch wissenschaftsethisch verwerflich. Hinzu kommt, dass in die fragliche Kommission seit dem Regierungswechsel in Deutschland 1999 auch einige Kritiker der Kernenergienutzung berufen worden sind. Ein aktives Interesse an Verschleierung müsste also auch diesen Kritikern unterstellt werden. Ansonsten hätten sie, da die Kommission laut ihrer Satzung nicht zu konsensuellen Entscheidungen verpflichtet ist, ihre Einschätzung zumindest durch ein abweichendes Votum in dieser existentiell wichtigen Frage deutlich machen können.
Dass sie das nicht taten, lässt vermuten, dass die eigentümliche Flucht vor Klarheit und vor Handlungskonsequenzen gegenüber selbsterzeugten Großrisiken „habituell“ im Sinne der Soziologie Bourdieus ist. Menschen entscheiden sich dazu nicht aus bewusstem Kalkül. Das Verschieben und Verdrängen der Frage „was geschieht, wenn?“ gegenüber solchen Gefahren wäre demnach eine generell verbreitete Lebenshaltung in Risikogesellschaften. In einer Hinsicht ist diese Haltung funktional: Das Leben im Schatten selbst erzeugter existentieller Gefahren ist stabiler und unbelasteter zu organisieren, wenn sich die Gesellschaft daran gewöhnt hat, solche Risiken „im Schatten zu halten“ und nicht ständig zu hinterfragen. Dysfunktional wird diese Haltung erst dann und insofern, wenn solche Risiken in Wirkung treten – und dann die Gesellschaft existenziell gefährden.
Die Hypothese, dass selektive Unaufmerksamkeit gegenüber Großrisiken nicht individuelles Versagen sondern ein sozialer Habitus ist, widerspricht nicht der Beobachtung, dass diese Risiken vorübergehend und punktuell in das Licht hoher Aufmerksamkeit geraten können. Die Kehrseite der gewohnheitsmäßigen Ausblendung ist eine regelmäßige in der Gesellschaft aufflackernde Angst. Der Umgang mit der Tschernobyl-Katastrophe vom April 1986 ist für beides ein Beispiel. In den Wochen und Monaten danach waren Angst und Unruhe über dieses Ereignis teilweise enorm. Doch während sich in den folgenden Jahren die ökologischen wie gesundheitlichen Folgen des SuperGAUs ständig verstärk(t)en, nahm und nimmt die öffentliche Aufmerksamkeit immer weiter ab. Der gesellschaftliche Umgang mit Klimaveränderungen, mit der chemischen Kontamination von Nahrungsmitteln, mit den außen-induzierten Veränderungen von Ökosystemen oder mit dem Arsenal von Nuklearwaffen könnten ebenso als Beispiele dienen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob die zu geringe Resonanz der Großrisiken im Normalfall Bedingung ihrer partiell übersteigerten Resonanz im Sonderfall ist. Dass Problemverdrängung zu Angststeigerung führt, ist ein individualpsychologisches Erklärungsmuster, dessen Übertragbarkeit auf Gesellschaftshandeln zu prüfen wäre.
Kommen wir auf die Bearbeitung des Problems „Absturz auf ein AKW“ in Deutschland zurück. Die verantwortliche Bundesbehörde reagierte auf die Empfehlung der RSK mit einem weiteren Untersuchungsauftrag. Das ist die typische Reaktion einer Verwaltung in einer Lage, in der sie keine Entscheidung treffen kann – oder meint treffen zu können. Die latente Funktion des Folgeauftrags ist, einen weiteren Handlungsaufschub zu erreichen.
Handlungsaufschub, zweiter Teil
Der angesprochene Untersuchungsauftrag wurde an die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ vergeben, eine seit 1976 bestehende Einrichtung mit über 300 angestellten technisch-wissenschaftlichen Mitarbeitern; die Einrichtung wird gemeinsam von Bundesregierung, Technischen Überwachungsvereinen und einigen Bundesländern getragen. Aufgabe der Studie war, die Folgen des mechanischen Aufpralls wie der durch den Kerosinbrand erzeugten Hitze nicht nur generell sondern für die einzelnen Kraftwerkstypen darzustellen.
„Ereignisabläufe (der Katastrophe) und (Ausmaß der) Verwundbarkeit der Anlagen“ sollten analysiert werden. Gedacht war dabei nicht an empirisch-experimentelle Feldstudien, sondern an die Auswertung und Interpolation vorhandenen Wissens.
Die Studie, die mehrere Hundert Seiten umfasst, wurde zu Jahresende 2002 fertiggestellt und der Bundesbehörde übergeben. Sie wurde zum „top-secret“ erklärt, und es gelang trotz vorübergehender medialer Aufmerksamkeit, sie bis heute geheim zu halten. Begründet wurde das mit dem Argument, dass man keine Hinweise und Informationen preisgeben wolle, die für potentielle Angreifer nützlich sein könnten.
Die Bedeutung, die damit der Studie zugesprochen wurde, stand allerdings im umgekehrten Verhältnis zu ihrer praktischen Nutzung durch die wenigen eingeweihten Akteure. Aufgrund späterer Indiskretionen wissen wir, dass sie die damals 19 in Deutschland betriebenen AKWs in 5 Kategorien aufgliederte. Das gliedernde Kriterium war erstens der generelle Typus ( Druck- oder Siedewasser-Reaktor), zweitens die Art der (Nicht-)Berücksichtigung von Flugzeugabstürzen bestimmten Typs in Baugenehmigung und Bauweise. Also:
- Auslegung gegen Phantom – Druckwasserreaktor
- Auslegung gegen Starfighter – Druckwasserreaktor
- Keine Auslegung gegen Flugzeugabsturz – Druckwasserreaktor
- Auslegung gegen Phantom – Siedewasserreaktor
- Keine Auslegung gegen Flugzeugabsturz – Siedewasserreaktor
Die angefragte Untersuchung wurde dann für jeweils einen Reaktor – die „Referenzanlage“ – vollzogen. Dabei wurde unterstellt, dass sich die Bauweise und folglich sich stellende Probleme von den übrigen Reaktoren desselben Kategorie nur geringfügig unterscheiden.
Das Ergebnis war in keinem Punkt unerwartet und für jeden Kenner der Szene vorhersehbar. Kein einziges Kraftwerk ist vor der großen Nuklearkatastrophe gefeit, wenn ein Großflugzeug mit vollem Tank gezielt aufprallt. Dabei muss die Verwundbarkeit der Meiler aufgrund ihrer verschiedenen Bauweise unterschiedlich beurteilt werden. So versteht sich, dass ein Kraftwerk, das nicht einmal vor Militärfliegern gesichert ist, beim rechtwinkligen Aufprall einer Boeing 747 praktisch keine Chance hat. Dagegen überrascht die Einschätzung, dass die Reaktorwand der sieben zuletzt in Deutschland errichteten Kernkraftwerke selbst einem Großflugzeug standhalten könne. Gleichwohl wird zugestanden, dass die Erschütterungen auch hier zum Riss der Kühlleitungen und damit zur Kernschmelze führen können.
Eine zweckrationale Reaktion auf das skizzierte Ergebnis des Gutachtens wäre gewesen, Konsequenzen für zumindest jene Kraftwerke zu ziehen oder zur Diskussion zu stellen, die offenkundig nicht gegen eine Kernschmelze bei gleichzeitiger Zerstörung von Außen- und Reaktorhülle mit dann folgender radioaktiver Freisetzung geschützt sind. Das betrifft 12 der 19 laufenden Reaktoren. Auch für die sieben besser gesicherten Anlagen mögen Zweifel angemeldet werden, ob sie der ungeheuren kinetischen Energie und dem Grossbrand des demnächst in Serienproduktion gehenden europäischen Airbus A 380 von 560 Tonnen Gewicht und mit 310.000 Liter Tankinhalt soweit standhalten, dass ihre Funktionsfähigkeit bezüglich Kühlung, Strahlenschutz und Materialdichte n i c h t zusammenbräche. Das Gutachten lässt diese Frage offen.
Die Reaktion der Behörde war in unserem Fall wieder von der Art, dass Handeln hinausgeschoben werden konnte. Sie knüpfte an das nicht überraschende Eingeständnis der Gutachter an, dass ihre Analyse „im Einzelfall erhebliche Unsicherheiten“aufweise. Es sei nicht klar, ob nicht bereits durch die Material-Schwingungen, die der Aufprall induziert, einzelne Komponenten des Kraftwerks versagen und welche verheerenden Folgen ein Stunden andauernder Kerosinbrand hätte. „Diese Unsicherheiten können nur durch eine anlagenspezifische Analyse ausgeräumt werden“.
Diese Unklarheit veranlasste die Behörde zu einer Fortsetzung der Untersuchungsaufträge. Sie erklärte es für notwendig, nicht nur die Reaktortypen sondern auch die Bauweise der einzelnen Reaktoren hinsichtlich der erfragten Unfallszenarien beurteilen zu lassen. Zu dieser Analyse fehlte der Bundesbehörde die personelle Kapazität. Auch konnte sie geltend machen, dass die Detailunterlagen der einzelnen Meiler in den für die Atomaufsicht untergeordnet zuständigen Bundesländern lagern. Sie „entschied“ daher, die offen gebliebenen Fragen weiter zu klären, obwohl sie am Gesamtergebnis einer immer möglichen Nuklearkatastrophe nichts ändern. Den Fachbehörden der Bundesländer wurde daher der Auftrag erteilt, Fallstudien über Risiken und Schadensszenarien für die von ihnen beaufsichtigten Atomkraftwerken zu erstellen.
Praktische Folge dieses Schritts war, dass der Kreis der Akteure im Spiel des Handlungsaufschubs um die Atomaufsicht und die Regierung von fünf Bundesländern erweitert wurde. Denn die zuständigen Behörden dieser Länder – inclusive des damals rot/grün regierten Schleswig-Holstein – mauern seitdem bei der Erfüllung des Handlungsauftrags mit der Begründung, dass die an sie gestellten Erwartungen zu präzisieren seien. Die Bundesbehörde wiederum machte geltend, dass der Auftrag hinreichend klar und vollziehbar sei. Interne Unterlagen, die eine Analyse des nun einsetzenden Schwarze-Peter-Spiels über nunmehr 2 Jahre erlauben, sind nicht zugänglich. Das Ergebnis allerdings ist erkennbar: Die erfragten Detailuntersuchungen gibt es nicht – und solange es sie nicht gibt, werden Handlungskonsequenzen aus den bisher vorliegenden Analysen nicht gezogen. In einer permanent sich neu stimulierenden Selbstbeschäftigung von Technikern und Verwaltern gibt es ein greifbares „Ergebnis“: dass nicht wirklich gehandelt wird.
Die Studie der GRS war und ist streng geheim. Das Umweltministerium verweigerte auch eine Verbreitung ihrer wichtigsten Resultate. Diese wurden erst im Januar 2005 der Öffentlichkeit per Indiskretion bekannt. Eine 12seitige Zusammenfassung, die zum streng internen Gebrauch in den Behörden verfasst war, geriet in die Hände eines Abgeordneten des österreichischen Bundesparlament namens Peter Pilz. Österreich wäre als Nachbarland Bayerns von einer Nuklearkatastrophe in den dortigen Atommeiler direkt betroffen. Der Abgeordnete verteilte gemeinsam mit der bayerischen Landtags-Abgeordneten Ruth Paulig das Papier auf dem Marienplatz in München, kurz danach veröffentlichte der Umweltverband BUND das Resumé auf seiner Internet-Seite. Erst dadurch wurde die Geheimhaltung der Ergebnisse durchbrochen.
Erklärungsversuch, zweiter Teil
Analysieren wir die manifesten wie die latenten Funktionen der Geheimhaltung. Die vom verantwortlichen Minister und den Regierungsbehörden gegebene Begründung liegt auf der Hand: Eine Veröffentlichung gäbe verdeckt handelnden Terrorgruppen wichtige und verwertbare Informationen zur gezielten Vorbereitung eines Anschlags. Es wäre daher leichtfertig, die Allgemeinheit über den Inhalt des Gutachtens und über seine Ergebnisse zu informieren.
Bei näherer Betrachtung ist das nicht plausibel. Das fragliche Gutachten war keine Primäranalyse, sondern trug bereits vorliegende Daten und Fakten über die Kraftwerktypen und die ausführlich dargestellten „Referenz-Kraftwerke“ zusammen. Diese Daten und Fakten sind bei näherer Recherche auch für Dritte zugänglich. Jede/r halbwegs in die Dinge Eingearbeitete kann sich Klarheit verschaffen, in welchem Ausmaß Atommeiler gegen Abstürze ausgelegt sind. Dieser Sicherheitsaspekt ist Bestandteil der Genehmigungsunterlagen, er war auch Gegenstand der öffentlich stattfindenden und dokumentierten Planungsverfahren. Über die Bauweise der Anlagen selbst gibt es detaillierte und zugängliche Unterlagen; zum großen Teil haben die Betreiber sie mit Stolz in Fachzeitschriften wie „Atomwirtschaft“ veröffentlicht. Man findet sie durch einfache Bibliotheksrecherchen. Die Frage der höheren oder geringeren Verwundbarkeit eines Kraftwerks ist für terrorbereite Gruppen, die beim 11.September-Anschlag aus ausgebildeten Ingenieuren und Fachwissenschaftlern bestanden, leicht zu klären. Auf ein zusätzliches Gutachten sind sie nicht angewiesen.
Es kommt hinzu: Für das Laienpublikum ist eine Veröffentlichung des Gutachtens wenig interessant. Seine Fachanalysen sind nur verhältnismäßig kleinen Kreisen Eingeweihter verständlich. Selbst die erwähnte Zusammenfassung zum internen Gebrauch, die per Indiskretion nach außen gelangte ist für die Allgemeinheit unlesbar. Die Zivilgesellschaft benötigt keine technischen Details im Fachjargon, vielmehr transparent dargestellte Ergebnisse zu existentiell wichtigen Fragen wie:
- Sind die AKWs gegen Luftangriffe geschützt?
- Welche schlimmsten Folgen müssen wir im Terrorfall befürchten?
- Wie steht es um die Atomanlage in meiner Heimatregion – ist sie besonders verwundbar oder etwas besser gesichert als andere Anlagen?
- Was kann getan werden, um den Schutz zu verbessern?
- Müssen wir mit dem Risiko eines provozierten SuperGAU leben, solange in unserem Land bzw. auf unserem Kontinent Atomkraftwerke in Betrieb sind?
Zu diesen Fragen konnte die Regierung Auskunft geben, ohne die Gutachten bekannt zu machen. Sie tat das nicht, obwohl eine der Regierungsparteien seit ihrer Gründung für das Informationsrecht der Bürgerinnen und Bürger über Umwelt- und Gesundheitsrisiken gestritten hat. Der deutsche Umweltminister, der die strikte Geheimhaltung verteidigte, war selbst jahrelang Vorsitzender jener Partei und engagierte sich damals für ein fundamentales Bürgerrecht auf Umweltinformationen. Es fanden sich auch sonst kein einflussreiches Gremium oder Mandatsträger dieser Partei, die oder der das Bürgerrecht auf Information hier einforderte. Dass die Veröffentlichung über einen Volksvertreter des Nachbarstaats Österreich erfolgte, unterstreicht nur, wie intensiv hier die Problemverdrängung wirkte.
Eine Erklärung dieses Verhaltens aus Regierungsopportunismus ist kurzschlüssig. Rationale Erwägungen des Regierungshandelns hätten eher für mehr Offenheit gesprochen. Die Grünen hatten unter Inkaufnahme großer Kompromisse im Frühjahr 2002 ein Gesetz über die Laufzeitbegrenzung von Atomkraftwerken durchgesetzt. Die dabei gemachten Konzessionen hatten sie in den Umweltverbänden, in den Anti-Atom-Initiativen und auch in der eigenen Partei heftiger Kritik ausgesetzt. Zugleich war klar, dass die Atomwirtschaft dem Kompromiss deshalb zugestimmt hatte, weil sie sich für die Gegenwart davon klare Vorteile versprach und für die Zukunft darauf setzte, die Laufzeitbegrenzungen unter einer anderen Regierungskonstellation wieder rückgängig zu machen. Es wäre also klug im Sinne einer Durchsetzungsstrategie gewesen, die Verwundbarkeit der Kraftwerke durch Terror offen zu legen und damit zum öffentlichen Diskussionsgegenstand zu machen. Die Position, gezielt ein Ende der Atomwirtschaft anzusteuern, wäre damit gestärkt worden. Im „schlimmsten Fall“ hätte es eine Debatte über eine Beschleunigung des Endes gegeben. Der Politik des Umweltministers konnte das nicht schaden, wäre aber in jedem Fall hilfreich, um evtl. mit der vorzeitigen Stilllegung besonders verwundbarer Kraftwerke einen politischen Erfolg zu erzielen.
Die Geheimhaltung der Studie ist – so die Folgerung – nicht rational, sondern habituell zu erklären. Die Feststellung, dass es gegen eine provozierte Nuklearkatastrophe keinen Schutz gibt, ist bedrohlich.
Hunderttausende können an Verstrahlung sterben, Millionen evakuiert werden, Zehntausende von Quadratkilometern nicht oder kaum mehr bewohnbar sein. Die unheilvolle Prophezeiung dieser Möglichkeit rückt die Politik leicht in die Rolle einer monströsen Kassandra, vielleicht selbst mit der Folge, sich wie die trojanische Seherin unbeliebt zu machen. Die Reaktionen der Gesellschaft auf eine Unheilsbotschaft sind schwer kalkulierbar. Die lang anhaltende Unaufmerksamkeit gegenüber einem derartigen Risiko, der notorische Mangel an Resonanz zu diesem Problem, kann leicht in eine Über-Resonanz umschlagen, wenn das Risiko durch Regierungsverlautbarung „offiziell“ erklärt wird. Weil das Risiko ausgeblendet ist, kann das offizielle Eingeständnis Angst erzeugend wirken. Und Angst ist im Umgang mit Risiken ein schlechter Ratgeber. Es ist also nicht das Risiko des Terroranschlags selbst, sondern das mangelnde Vermögen, mit den Risiken der Moderne rational und nicht hysterisch umzugehen, das zur Geheimhaltung Anlass gibt.
Nuklearterror und Öffentlichkeit
In Deutschland war die Möglichkeit von Nuklearterror unmittelbar nach dem 11. September im Gespräch. Schon tags darauf, am 12. September, meldete die Nachrichtenagentur dpa eine erste Einschätzung aus der GRS: Es sei nicht klar, ob die AKWs im Land dem Angriff einer Passagiermaschine standhalten. „Es gibt (da) eine Grenze, die wir nicht so genau kennen.“
Auch andere Presseagenturen greifen das Thema auf, über das dann in einer ganzen Reihe von Zeitungen einschlägige Artikel erscheinen.
Zum Teil sind die offiziellen Verlautbarungen in jenen erregten Tagen unumwunden und direkt:
„Natürlich sind terroristische Anschläge wie in New York bei der Planung unserer AKW nicht in Betracht gezogen worden. (Über die Folgen eines Aufschlags auf dem Reaktorgebäude) gibt es keine Berechnungen.“
„Über den gezielten, den beabsichtigten Absturz auf eine kerntechnische Anlage hat bisher keiner geredet. Dieser Fall wurde in keinem Genehmigungsverfahren berücksichtigt. Gegen kriegerische Einwirkungen sind Kernkraftwerke nicht geschützt und gegen Terroranschläge auch nicht. Da gibt es nur einen gewissen Grundschutz“.
Die Presseberichte der folgenden Tage und Wochen sprechen allerdings die Gefahr des Nuklearterrors nur noch in Ausschnitten an. Der diskutierte Gefahrenfall ist immer der „Angriff aus der Luft“, obwohl die gleichzeitigen Berichte über Al Qaida und verwandte Terror-Netzwerke darauf verweisen, dass diese in der Wahl ihrer Mittel und Strategien höchst modern, kenntnisreich und flexibel sind. Warum sollte ein Anschlag auf Atomanlagen demselben Muster wie die Anschläge am 11. September folgen? Selbst wenn hie und da Kenner die Vielfalt der Möglichkeiten, eine Nuklearkatastrophe auszulösen ansprechen, wird das nicht aufgegriffen. Der Schock über ein katastrophales Ereignis führt zwar dazu, über eine mögliche Wiederholung auf nukleare Anlagen zu reden oder zu schreiben. Er führt jedoch nicht zum Nachdenken darüber, dass solche Anschläge zu Boden, vom Wasser aus oder durch direktes Eindringen in Atommeiler leichter durchzuführen sind. Die Debatte wirkt leicht hilflos; ihre Fixierung auf einen Luftangriff ist der Komplexität des Risikos nicht angemessen.
Weitgehend aus der Debatte in Deutschland ausgeklammert bleiben auch die Kernkraftwerke anderer Länder. Besonders überrascht das bei Berichten über die Lage in den USA. Die westliche Politik und Öffentlichkeit sah im 11. September einen gezielten militärischen Angriff auf die Weltmacht USA, ein Sonderrat der NATO kurz darauf hatte formell den Angriffsfall erklärt. Die öffentliche Meinung sprach dem verdeckt operierenden Gegner große – wahrscheinlich zu große – logistische Fähigkeiten zu. Eine Wiederholung der Anschläge in den USA oder anderen westlichen Ländern wurde für die kommenden Wochen erwartet. Lange Zeit erschreckten punktuell auftretende Milzbrand-Erreger in den USA die Öffentlichkeit. Der Beginn einer Kriegführung mit biologischen Waffen wurde befürchtet.
Und schließlich: Die USA nutzten den Terroranschlag, um die Invasion in Afghanistan und die Zerstörung der dort vermuteten Stützpunkte des Terror-Netzwerks vorzubereiten. Mit gezielten Gegenschlägen dieser Organisation war daher zu rechnen. Dennoch wurde über die Möglichkeit des Nuklearterrors in den USA nur vereinzelt geschrieben; angesichts der ständig gepflegten Behauptung, deutsche AKWs seien besser gegen Luftangriffe geschützt als US-amerikanische, ist das rational nicht nachvollziehbar.
Die geringe Beachtung nuklearterroristischer Gefahren in den USA lässt sich zwar aus der großen räumlichen Distanz erklären. Die radioaktiven Wolken eines SuperGAUs am Westatlantik oder am Mississippi würde Deutschland wohl nicht erreichen (wirtschaftlich treffen würden sie das Land dafür um so mehr). Bezüglich der europäischen Nachbarländer verhält sich das anders. So hat Frankreich 59 AKWs in Betrieb, Belgien 7 und Großbritannien 27 Atommeiler. Eine Nuklearkatastrophe würde bei den im nördlichen Europa überwiegend wehenden Westwinden wahrscheinlich weite Landstriche auch Deutschlands verstrahlen. Ein SuperGAU in einem der grenznahen AKWs würde auch deutsche Gebiete zur Evakuierungszone machen. Wenn die immer wiederkehrende Erklärung, deutsche AKWs seien sicherer als z.B. die Belgiens, Frankreichs und Tschechiens, der Beruhigung dienen soll, wird sie hier irrational. Da sie in der Sache nicht überzeugt, signalisiert sie vor allem Hilflosigkeit.
Über zwei Nuklearanlagen allerdings wurde vereinzelt berichtet: Über die Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) La Hague in der Normandie und Sellafield an der Irischen See. Von dort seien im Katastrophenfall weit schlimmere Verseuchungen zu erwarten als aus einem gewöhnlichen Atommeiler. So zitiert die FR den französisch-deutschen Experten Mycle Schneider über La Hague: Die Anlage biete gegen Flugzeugangriffe praktisch keinen Schutz. Es lagerten dort 7.500 Tonnen an abgebrannten Brennelementen und 80 Tonnen Plutonium, ein Vielfaches wie in AKWs. Wenn eines der Abklingbecken durch Zerstörung seinen Inhalt explosiv in die Atmosphäre schleudere, würde das 67fache an Cäsium-137 freigesetzt wie 1986 in Tschernobyl. Ähnlich werden Berichte aus England zitiert: Ein geheimer Regierungsreport, der gleichwohl in die Hände der Zeitschrift „News of the World“ gefallen sei, führe zum Ergebnis, dass ein erfolgreicher Anschlag auf die WAA Sellafield „ den größten Teil Nordeuropas in eine verstrahlte Todeszone“ verwandle.
Angesichts dieser Horrorszenarien fällt auf, dass sie nur kurzfristig und wahrscheinlich nur deshalb in deutschen Medien erscheinen, weil sie vom eben zitierten Experten verbreitet wurden. Und das, obwohl bei Westwinden La Hague und Sellafield auch Deutschland verseuchen würden. Größere Aufmerksamkeit erhält nur die – vorübergehende – Entscheidung der Regierung Frankreichs, in La Hague Flugabwehrraketen zu stationieren. Diese Maßnahme wird mehrfach als wirkungsloses Ablenkungsmanöver kritisiert. Das überzeugt keineswegs, denn La Hague liegt nur 300 km von den Pariser und Londoner Großflughäfen entfernt. Wenn die Angriffsabsicht einer dort abfliegenden Maschine rechtzeitig klar wird, ist der Abschuss mit einer am Angriffsziel stationierten Rakete durchaus noch möglich.
Dass die Öffentlichkeit auf die Raketenstationierungen klar ablehnend reagierte, beleuchtet daher vor allem die große mentale Barriere, sich ernsthaft mit unangenehmen Konsequenzen aus der riskanten Nutzung der Nuklearenergie auseinander zu setzen. Sicher stellt die Militarisierung der Atomanlagen einen Schritt hin zum Atomstaat dar – Robert Jungk hatte diese beunruhigende Entwicklung vor 25 Jahren in einem leider fast vergessenen Buch vorausgesagt. Sinnvoller Gegenstand der Kritik ist jedoch nicht, dass Atomkraftwerke durch Militär geschützt werden, sondern dass die Gesellschaft sich auf eine Hochrisikotechnik eingelassen hat, die nur militärisch – und selbst so unzureichend – zu schützen ist. Sofern Atomanlagen in Betrieb sind, kann ihr militärischer Schutz, trotz aller unangenehmen Folgen, gleichwohl immanent sinnvoll sein. Auch in Deutschland hätte das nach 2001 mehr an Sicherheit gebracht als das hier analysierte und im Ergebnis fruchtlose Begutachten, Analysieren und Ausweichen vor praktischen Konsequenzen.
Die zeitweise starke mediale Aufmerksamkeit in Deutschland ist – so folgern wir – stark selektiv und inkonsequent. Aus der Medienanalyse lässt sich allerdings nicht die Art und Intensität der Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erschließen. Zwar wählt die Presse ihre Themen in der Erwartung, damit auf besonderes Interesse bei ihrem Publikum zu stoßen. Ob das wirklich zutrifft, lässt sich aber nur – und selbst dort nur eingeschränkt – an Einschaltquoten von TV-Sendungen testen. Hinzu kommt, dass Berichte über möglich erscheinende Katastrophen einen hohen Sensationswert haben und insofern per se für mediale Berichterstattung attraktiv erscheinen. Eine ernsthafte Beunruhigung der Gesellschaft muss dem aber nicht entsprechen.
Auf eine starke gesellschaftliche Resonanz des Themas „Nuklearterror“ nach dem 11. September deutet wenig hin. Es gab keine Demonstrationen dazu von größerem Ausmaß, und die Forderung nach Schließung der Atommeiler wurde nur von den sie ohnehin vertretenden Organisationen verstärkt in die Öffentlichkeit getragen. Die alljährlich im November stattfindenden Rücktransporte verglaster Abfälle aus der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente in das Zwischenlager Gorleben wurden für 2001 abgesagt, so dass die ansonsten zu erwartenden Protestaktionen auch nicht als Indíkator geeignet sind.
Allerdings: Wenige Wochen nach dem 11. September und während der medialen Debatte um Nuklearterror fand aus den Kraftwerken Stade und Brunsbüttel ein Transport abgebrannter Brennelemente nach La Hague und Sellafield statt. Beide AKWs liegen elbabwärts von Hamburg, also in westlicher Windrichtung zur Millionenstadt. Beide gehören zu den Anlagen, über deren besondere Verwundbarkeit die Presse jener Tage berichtet: Sie sind nicht einmal gegen Düsenjäger ausgelegt. Für Brunsbüttel hatte der zuständige Staatssekretär von Schleswig-Holstein das auch öffentlich erklärt. Im katastrophalen Ernstfall musste mit einer Verstrahlung von Hamburg und einer Evakuierung zumindest weiter Teile des Stadtgebiets gerechnet werden.
Die Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente waren in beiden Kraftwerken voll. Standortnahe Zwischenlagerung war noch nicht möglich. Ein Weiterbetrieb setzte daher die Leerung der Lagerbecken und den Abtransport nach Frankreich bzw. England voraus. Ziel waren somit die beiden europäischen Atomanlagen, bei denen – wie wir sahen – im Katastrophenfall die schlimmsten Auswirkungen an weiträumiger Verseuchung zu befürchten sind. Der Atomzug durchkreuzte mit Hamburg eine Millionenstadt. Auf einem Güterbahnhof wenig südlich von Hamburg waren mehrere Stunden Aufenthalt vorgesehen, um den Atomzug mit einem weiteren Transport aus dem östlich von Hamburg gelegenen AKW Krümmel zu verkoppeln. Der Transport war öffentlich bekannt geworden, Anti-Atom-Gruppen verbreiteten die Meldung einige Tage zuvor. Sie riefen zu Protestaktionen und zu Schienenblockaden auf. Aktionsschwerpunkt sollte Hamburg sein. Gleichwohl beteiligten sich an den nächtlichen Aktionen innerhalb der 1,7 Millionenstadt nur 100-200 Personen, von denen nur ein Teil vergeblich versuchte, die Transportstrecke zu besetzen. Zu einer abendlichen Demonstration erschienen gut 500 Menschen.
Das Beispiel zeigt eine geringe gesellschaftliche Beunruhigung über Nuklearterror in jener von Terrorangst so geschüttelten Zeit. Ein anderes Beispiel aus dem eher ruhigen Jahr 2004 kann das bestätigen. Um auf das ungelöste Problem der Sicherung von Atomanlagen hinzuweisen, führten atomkritische Gruppen am 10. September 2004 eine bereits erwähnte symbolische Laser-Beschließung des AKW Philippsburg vom Wasser aus durch. Mit Bedacht war der Vortag des 11.September als Zeitpunkt gewählt. Die Aktion am Rhein wurde jedoch fast zum Reinfall – aufgrund der minimalen Presseresonanz, die sich auf zwei kurze Berichte im Regionalfunk und Regionalfernsehen beschränkte. Für den Abend hatte man in Heidelberg über Presse, Internet und die Verteilung von Flugblättern zu einer Fachdiskussion unter anderem mit Abgeordneten eingeladen, die sich inhaltlich mit dem Problem besonders verwundbarer Kraftwerke aus einander setzte. Man muss wissen, dass Heidelberg jeweils 30 km von drei Kraftwerken liegt – Philippsburg 1, Biblis A und Obrigheim -, die nicht einmal gegen den Absturz einfacher Militärmaschinen ausgelegt sind. Eine der schönsten und attraktivsten Städte Deutschland steht also unter dem Damoklesschwert eines besonders hohen Nuklearrisikos. Diese Gefährdungslage wurde in der Werbung zur Veranstaltung angesprochen – und dennoch erschienen nicht einmal 30 Personen.
Nuklearterror und Politik
Die Presseresonanz nach dem 11.September währte nur wenige Wochen. Sie wurde kurzzeitig neu belebt, als die RSK ihre oben erwähnte Stellungnahme im Herbst 2001 abgab und flammte noch einmal für einige Wochen Anfang 2004 auf, als die geheim gehaltenen Resultate des GRS-Gutachtens bekannt wurden. Natürlich verband sich die Debatte mit Äußerungen aus der professionellen Politik, denen wir uns jetzt zuwenden.
Der deutsche Bundes-Umweltminister hatte die Brisanz der Sache angesprochen, als er- wie zitiert – im Parlament den Nuklearterror zu einem „nicht mehr vernachlässigbaren Restrisiko“ erklärte. „Vernachlässigbares Restrisiko“ ist ein Rechtsbegriff, der allerdings wissenschaftstheoretisch eine kaum greifbare Leerformel darstellt. Er klassifiziert Ereignisse als so hochgradig unwahrscheinlich, dass wir getrost davon ausgehen können: Sie treten niemals ein. In der Auslegung von Nuklearanlagen gegen Risiken müsse dieser Fall daher nicht berücksichtigt werden.
Für den betrachteten Fall von Nuklearterror ist die Kategorie des „Restrisikos“ gänzlich unpassend. Es gibt kein denkbares Rechenverfahren, um Berechnungen zur Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Handlungen wie gezielten Angriffen, absichtlicher Sabotage, Fahrlässigkeit oder Fehlverhalten im Betrieb von Atomkraftwerken durchzuführen. Wer das durch verbalen Rückgriff auf die Sprache der Wahrscheinlichkeit suggeriert, ist ein Scharlatan. Wie wahrscheinlich ist es, dass sich irgendwo auf der Welt logistisch schlagkräftige Terrorbanden bilden? Dass sie Experten rekrutieren, die in Atomtechnik ausgebildet sind? Dass sie sich dafür entscheiden, es mit der Zerstörung von Atomanlagen zu versuchen? Dass ihnen die Vorbereitung solcher Anschläge gelingt? Dass der Angriffsplan nicht vorzeitig enttarnt wird? Dass die Planer alle sich auftürmenden Schwierigkeiten meistern? Dass sie schließlich den Angriff durchführen – und in seiner fürchterlichen Zielsetzung „erfolgreich“ beenden? Zur Klärung dieser Fragen ist die Wahrscheinlichkeitstheorie so ungeeignet wie das Studium der Himmelsbewegungen.
Die Entscheidung, den Nuklearterror dem (zu vernachlässigenden) Restrisiko zuzuschlagen ist von normativer Art. Auf ihre Plausibilität oder Nicht-Plausibilität verständigt sich ein Kreis von Menschen unter bestimmten historischen Umständen, vielleicht aufgrund spezifischer Erfahrungen und vor allem aufgrund besonderer Interessen wie etwa dem Gesichtspunkt, die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ auf jeden Fall zu betreiben. Dass es zur Einstufung von Gefahren als „Restrisiken“ einen gesellschaftlichen Konsens gibt, ist dabei nicht zu erwarten. Vielleicht hätte das bis zum 26. April 1986 in vielen westlichen Ländern eine breite Mehrheit für plausibel gehalten, obwohl die Proteste und Aktionen in den Jahren vor „Tschernobyl“ ein weit verbreitetes Unbehagen auch gegenüber der friedlichen Atomkraftnutzung belegten. Nach dem 11. September allerdings ist zu vermuten, dass breite Kreise der Gesellschaft eine durch Terror bedingte Nuklearkatastrophe nicht für ausgeschlossen halten.
Wenn das zumindest zu einer starken Minderheitsmeinung in einer Gesellschaft wird, ist die Klassifizierung einer Gefahr als unbeachtliches Restrisiko soziologisch unsinnig. Auch rechtspolitisch wird der Begriff dann unhaltbar. Ein wissenschaftliches Entscheidungsverfahren zum Grad der Wahrscheinlichkeit gibt es nicht. Es wäre folglich rational, künftig Genehmigung und Weiterbetrieb von Nuklearanlagen davon abhängig zu machen, dass die Anlage gegen Nuklearterror geschützt ist. Und Nachrüstung oder Stilllegung anzuordnen, wenn das nicht der Fall ist.
Solche Schlüsse aus einer veränderten Weltlage hat in den folgenden Wochen, nicht nur in Deutschland, kaum ein hochrangiger Politiker gezogen. Das Großrisiko Nuklearterror wurde nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Für Deutschland drängt sich in jener Zeit dafür ein Erklärungszusammenhang auf: Die Bundesregierung hatte im Sommer 2000 einen „Atompakt“ mit den vier großen Stromkonzernen in Deutschland geschlossen. In ihm sicherten die drei unterzeichnenden Regierungsvertreter u.a. einen störungsfreien Betrieb der Atommeiler für vereinbarte Restlaufzeiten zu, verzichteten auf den Erlass verschärfter Sicherheitsstandards und erklärten, finanzielle Privilegien der Atomwirtschaft nicht abzubauen. Die Betreiber akzeptierten im Gegenzug die Festlegung von Restlaufzeiten, die in zulässigen Strommengen für jedes Kraftwerk berechnet waren. Es war abgesprochen, dass die Regierung die Vereinbarung inhaltsidentisch in eine Gesetzesnovelle umsetzt und für eine parlamentarische Umsetzung in genau dieser Form sorgt.
Diese Gesetzesnovelle hatte die Bundesregierung wenige Monate vor dem 11. September verabschiedet und dem Bundestag zugeleitet. Würde das Regierungslager die Vorlage im Lichte der jüngsten Ereignisse neu bewerten und verändern, riskierte es eine Aufkündigung des Atompakts, einen Konflikt mit mächtigen Wirtschaftsunternehmen und auch eine rechtliche Intervention der Betreiber gegen das verabschiedete Gesetz.
Diesen Konflikt wollte die Regierungskoalition nicht. Ihre Risikoscheu in der Frage führte dazu, dass sie aus dem nunmehr neu zu bewertenden Risiko des Nuklearterrors keine praktischen Schlüsse zog. Erleichtert wurde das durch die verbreitete Hinnahme des status quo in der Gesellschaft, zumal die öffentliche Darstellung des Atompakts als erfolgreicher Atomausstieg half, diese Politik auch als Schutzmaßnahme gegen Nuklearterror darzustellen. So änderte sich de facto nichts. Der SuperGAU, provoziert durch Angriff oder Sabotage, blieb formell weiter ein unbeachtliches Restrisiko, obwohl der common sense in den Debatten nach dem 11. September das längst anders entschieden hatte.
Dennoch gab es in der Politik Versuche, im Rahmen der Vereinbarung mit den Stromkonzernen den Schutz vor Nuklearterror zu verbessern. Politiker der Regierungskoalition schlugen in den Monaten nach dem 11. September vor, besonders verwundbare Kraftwerke vorzeitig stillzulegen und ihre Laufzeitrechte auf besser gesicherte Anlagen zu übertragen. Eine solche Regelung war nach der Atomgesetznovelle zulässig. Den Atompakt hätte sie formell nicht in Frage gestellt und dennoch in der Frage der Sicherheitsvorsorge einen Fortschritt erzielt.
Innerhalb der Regierungsparteien selbst ging die Diskussion allerdings über den Atompakt hinaus. So beschloss ein Parteitag der Grünen Ende November einen Antrag aus der Mitgliederbasis, der die sofortige Stilllegung aller 10 Atommeiler forderte, die nicht gegen Militärmaschinen gesichert sind. Eine Verwirklichung dieser Idee hätte den Atompakt zweifellos gesprengt. Nachdem die Parteispitze die „Forderung“ vorsichtig in einen „Vorschlag“ umformuliert hatte, wurde der Antrag fast einstimmig angenommen. Den meisten Delegierten wird diese semantische Akrobatik nicht deutlich gewesen sein. Aber: Es gab weder von der Parteispitze der Grünen noch von den grünen Ministern irgendeine Aktivität, den „Vorschlag“ anschließend in politische Verhandlungen einzubringen.
Im Herbst 2001 hatten zwei Bundestags-Abgeordnete der Grünen noch inhaltlich zutreffend zur monströsen Gefahr provozierter Nuklearkatastrophen erklärt: „Wenn drei Meiler in den „richtigen“ Regionen durch einen vergleichbaren Anschlag wie in den USA getroffen werden, existiert die Bundesrepublik nicht mehr.“ So war auch in den parlamentarischen Beratungen des Atomgesetzes die Bedrohlichkeit des Nuklearterrors ein Gesprächsthema, führte jedoch zu keinerlei rechtlichen Konsequenzen. Das Parlament verabschiedete im April 2002 das Atomgesetz wortgleich in der Fassung, die die Regierung eingebracht hatte. Selten hat in der Geschichte der Bundesrepublik in einer wichtigen Frage die Parlamentsmehrheit so vollständig auf ihr ureigenes Recht der legislativen Gestaltung verzichtet. Es zeigte sich damit, dass auch die Politik der veränderten Risikolage in keiner Weise Rechnung trägt.
Allerdings veranlasste die seit dem 11. September veränderte Situation die Parlamentsmehrheit zu einem ergänzenden Beschluss, der allgemein die Notwendigkeit benannte, Konsequenzen aus der neuen Gefährdungslage zu ziehen, ältere Kraftwerke mit schlechter Sicherung noch vor ihrem gesetzlich fixierten Ende stillzulegen und deren ungenutzte Stromproduktion den relativ besser geschützten Kraftwerken neueren Datums als zusätzliches Recht zu übertragen. Die prinzipielle Möglichkeit dazu ließ das novellierte Atomgesetz zu.
Dieser Beschluss wurde nie umgesetzt und seine Umsetzung wurde auch nicht versucht. Von Seiten der Regierung gab es keine einzige Initiative, die vorzeitige Stilllegung mit den Kernkraftwerksbetreibern zu verhandeln oder sich in einer anderen Form dem Ziel zu nähern. Bekanntlich ist die Exekutive an Parlamentsbeschlüsse, die keine Gesetzeskraft haben, nur politisch gebunden, zu ihrer Umsetzung jedoch nicht rechtlich verpflichtet. Aber auch die Parlamentsmehrheit, die diesen Beschluss fasste, übte keinerlei Druck auf die Regierung aus, ihn denn auch zu befolgen. Die Verdrängung des Problems wird auch daran deutlich, dass im Beschluss die Bundesregierung ebenfalls zu einem Bericht über Maßnahmen zum Schutz vor Nuklearterror aufgefordert war; ein solcher Bericht steht seit nunmehr drei Jahren aus, und er wurde in dieser Zeit auch nicht aus dem Parlament angemahnt … .
Die Resonanz der Medien auf das Nuklearrisiko war vorübergehend und versandete nach wenigen Wochen. Die folgenden zwei Jahre gibt es nur hin und wieder Presseberichte. Etwas mehr Aufmerksamkeit erhalten Spekulationen über Ergebnisse der geheim gehaltenen GRS-Studie, die seit Ende 2002 vorliegen soll. Eine wirkliche Diskussion darüber wird allerdings erst entfesselt, als im Januar 2004 ihre demonstrative Bekanntgabe – bei Strafandrohung – selbst als mediales Ereignis inszeniert wird. Jetzt konzentrierte sich die Debatte auf zwei Punkte: die Laufzeitübertragung und den Schutz durch Vernebelung der Atommeiler.
Der alte Vorschlag, die stärker verwundbaren Kraftwerke vorzeitig vom Netz zu nehmen, wird von einer Bundes-Arbeitsgemeinschaft der Grünen zur Energiepolitik wieder aufgegriffen und zum Verlangen ausgestaltet, zumindest die fünf besonders schlecht geschützten Reaktoren sofort stillzulegen. Die Initiative erhält zwei Wochen später starke mediale Resonanz, als der Präsident des Bundesamts für Strahlenschutz dieses Verlangen als „Ratschlag“ an die Energiekonzerne veröffentlicht und diese darauf hinweist, dass sie die Laufzeitrechte der stillgelegten Reaktoren auf die weiter betriebenen Anlagen übertragen können. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit lassen auf Unterstützung aus Kreisen des Regierungslagers, aber auf Ablehnung durch die parlamentarische Opposition und vor allem durch die Betreiber schließen. Der Vorstandschef der „Energiewerke Baden-Württemberg“, der mit zwei zu schließenden Anlagen betroffen wäre, droht in einem Brief an den Umweltminister den Bruch des Atompakt an, wenn der Vorschlag weiter verfolgt werde.
So blieb es wieder bei einer folgenlosen Debatte. Einen Schritt in die vorgeschlagene Richtung hatte ein halbes Jahr zuvor einzig der Konzern HEW-Vattenfall getan, indem er die Stillegung der Alt-Anlage Stade um ein halbes Jahr vorverlegte. Allerdings waren dafür nach eigenen Angaben ausschließlich wirtschaftliche Gründe maßgebend.
Wirtschaftliche Erwägungen führten auch dazu, dass im Herbst 2002 das Sicherheitsprinzip auf den Kopf gestellt wurde und die Bundesregierung die Laufzeit des ältesten betriebenen Meilers – Obrigheim am Neckar – um zwei Jahre verlängerte. Das war das genaue Gegenteil der oben zitierten parlamentarischen Forderung, die ja eine vorzeitige Schließung der ältesten, weniger geschützten, Kraftwerke verlangte. Die Verlängerung für Obrigheim fand damals eine hohe Medienresonanz – und belegt gerade darum unsere These der Risikoverdrängung. Die Presse diskutierte nämlich ausschließlich die mangelnde Durchsetzungskraft der Grünen in der Koalition und generell die Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Atomausstiegspolitik, die bei der ersten anstehenden Stilllegung einen Rückzieher macht. Dass die Verlängerung für Obrigheim der Neubewertung des Nuklearrisikos, über die nach dem 11.September intensiv gesprochen wurde, diametral widersprach, war hingegen überhaupt nicht Medienthema. So schnell und gründlich verschwand der Nuklearterror aus dem Blickfeld öffentlich werdender Aufmerksamkeit.
Ein zweiter Topos der Risikodebatte waren im Frühjahr 2004 technische Maßnahmen, die die Anlagensicherheit verbessern könnten. Finanziell kostspielige Schritte hatten die Betreiber immer abgelehnt und es ist auffällig, dass hier von den Medien wie von der Politik nicht hinterfragt wurde. Die Installierung von Raketenabwehr-Systemen hatten wir bereits angesprochen. Sie wäre eine Schutzverbesserung, wenngleich natürlich keine Schutzgarantie.
Nur: Ihre Installierung wäre kostspielig und vor allem: sie würde die Atomkraftnutzung sichtbar militarisieren. Der Schutz durch moderne Waffensysteme macht das hohe Dauerrisiko des Nuklearterrors offenkundig und unübersehbar. Das ist vermutlich der zentrale Grund dafür, dass die Kraftwerksbetreiber eine Installierung von Abwehrraketen ablehnten und die Gegenpartei der atomkritischen Organisationen sie zumindest nicht aktiv befürwortete. Für die Atomwirtschaft wäre die Sichtbarkeit des Risikos und die Militarisierung des Kraftwerksschutzes eine riskante Antiwerbung. Für die Atomkritik wäre die Raketenabwehr ein deutlicher Schritt in den zu Recht gefürchteten Atomstaat. Beide Seiten gehen aber damit Maßnahmen der Gefahrenabwehr aus dem Weg.
Auch die Staatsseite verfolgte den Weg der Raketenabwehr nicht und umging damit einen Konflikt mit der Atomwirtschaft. Eine weitere mögliche Maßnahme, nämlich: die Außenwandhüllen der Kraftwerke und die Schutzvorrichtungen für die wichtigen Kühlleitungen zu verstärken, wurde von der Politik ebenfalls nicht verfolgt und in der Presse nur in der spektakulären Variante diskutiert, die Kraftwerke mit einem Gitter von Mästen aus Stahlbeton zu umhüllen. Eine Verstärkung der Außenwände ist allerdings nicht ohne hohe Kosten und aufwendige Umbauten der Anlage zu realisieren. Dass es dazu keine ernsthafte öffentliche Debatte gab, zeigt wiederum einen Mangel an zielgerichteter Rationalität im Umgang mit Nuklearterror.
So konzentrierten – und beschränkten – sich Politik und Mediendebatte um mehr Sicherheit auf das Konzept einer Vernebelung der Atomkraftwerke. Bei seiner Darstellung fällt es schwer, die vorgeschlagene Maßnahme nicht als Schritt zum pur symbolischem Umwelthandeln im Sinne einer Placebo-Politik zu werten. Das bestätigt die diagnostizierte Hilflosigkeit im Umgang mit Nuklearterror.
Nach dem von Kraftwerksbetreibern eingebrachten Vorschlag sollen um alle Meiler Nebelwerfer installiert werden. Sie werden im Gefahrenfall in Betrieb gesetzt und sollen die Anlage durch eine Nebelwand nach außen unsichtbar machen. Angreifer können unter solchen Umständen das Reaktorgebäude nicht mehr genau anzielen und nur noch per Zufall treffen.
Die Medien haben den Vernebelungsvorschlag überwiegend kritisch aufgenommen und eher als Sicherheitssurrogat analysiert. An kritischen Argumenten wurden genannt:
- Der Nebel könne durch mitgeführte elektronische Geräte, sog. „GPS“-Anlagen, durchdrungen werden.
- Die Nebelwand löse sich bereits bei mittleren Windverhältnissen sehr schnell auf und sei daher ein höchst instabiler Schutz.
- Da eine notwendige Vernebelung erst nach Rückkoppelung mit entscheidungsbefugten Instanzen veranlasst werden könne, sei zu erwarten, dass die Nebelwerfer erst dann in Aktion treten, wenn der Überraschungsangriff bereits stattgefunden habe.
Es kann nicht die Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Analyse sein, über die technische Machbarkeit einer solchen Sicherheitsmassnahme zu entscheiden. Allerdings zählt aus dieser Sicht das Ergebnis: Seit nunmehr über 3 Jahren hat es trotz einer zeitweise starken Beunruhigung über Nuklearterror im untersuchten Land bisher keine Maßnahme an Atomkraftwerken gegeben, mit der ein Mehr an Schutz vor dieser Gefahr erreicht werden kann. Einzig die höchst fragwürdige – aber eben preiswerte – Methode der Vernebelung haben die Kraftwerksbetreiber bei der zuständigen Atomaufsicht der jeweiligen Bundesländer beantragt. Doch selbst hierzu wurde bisher keine Entscheidung getroffen. Deutlicher lässt sich die Hilflosigkeit gegenüber diesem Problem kaum darstellen.
Für einen aufgeklärten Umgang mit Großrisiken
Dass die Vorkehrungen anderer Staaten gegen möglichen Nuklearterror kaum weniger nebulös und hilflos sind, kann nicht beruhigen. Und obwohl der Artikel sich darauf beschränkt, die Muster der Verdrängung, der Ausblendung, der Unaufmerksamkeit im Umgang mit einem modernen Großrisiko zu analysieren, will ich der Frage nicht ausweichen, wie anders und besser mit der Gefahr des Nuklearterrors umzugehen sei. Wie würden Gesellschaften reagieren, wenn sie Opfer einer gezielten Zerstörung von Atomanlagen mit einer weiträumigen radioaktiven Verseuchung geworden sind? Im ( nicht gezielt herbeigeführten) Realfall Tschernobyl 1986 waren die Reaktionen recht unterschiedlich. Der betroffene Staat, die UdSSR, und seine Nachfolgestaaten Russland und Ukraine setzten die Nuklearwirtschaft ungebrochen fort. In einem weitaus geringer betroffenen Land, Italien, war das Ereignis Anlass, um sich von dieser Technologie zügig zu verabschieden. In der DDR beschleunigte der ignorante Umgang des Staats mit der radioaktiven Gefahr die Erosion des Systems. In Westdeutschland, Schweden und Belgien, die mit weniger von der radioaktiven Wolke getroffen waren als die westliche UdSSR, verstärkte „Tschernobyl“ die gesellschaftlichen Strömungen, die ein schnelles Ende der Nukleartechnologie erreichen wollten.
Mit der SPD schwenkte in Deutschland eine ganze Volkspartei von einem bis eindeutigen pro- auf einen allerdings nicht sehr entschiedenen und dauerhaften anti-Atomkurs um. Mit wachsender zeitlicher Distanz zum SuperGAU allerdings nahmen Energie und Intensität der Anti-Atom Strömungen nach, obwohl die Folgen der Katastrophe in der vor allem betroffenen Region sich Jahr für Jahr verschlimmerten.
Vieles spricht für die Annahme, dass eine demokratisch organisierte Gesellschaft, die eine Nuklearkatastrophe in der Dimension von Tschernobyl erleidet, die Erlaubnis zur Atomkraftnutzung sofort beenden würde. In einer solchen Situation würden Öffentlichkeit und Politik wahrscheinlich auch rückblickend es als Fehler werten, dass nicht bereits vorher die Nukleartechnik eingestellt oder zumindest die Sicherheit der Anlagen entscheidend verbessert worden wäre.
Diese im Rückblick eines imaginierten Ereignisses als klüger erscheinende Lösung gibt eine Maxime an die Hand, wie gegenwärtig mit der Möglichkeit von Nuklearkatastrophen rational umgegangen werden kann: Wenn sich eine Gesellschaft auf das Großrisiko einer Technologie, in diesem Fall der gezielten Kernspaltung, einlässt, sollte sie tunlichst vorab den Fall eines SuperGAUs mit schlimmsten Auswirkungen hypothetisch annehmen. Nicht aus Schwarzmalerei, sondern um unter breiter Beteiligung eine Güterabwägung diskutieren zu können: ob – und für wen .- die angenommenen Vorteile der Technologie die mit ihrer Nutzung eingegangenen Risiken aufwiegen. Dabei wird natürlich ebenfalls abzuwägen sein, ob, wo und mit welchem Aufwand die Risiken sich wesentlich verringern lassen.
Dieser Maxime eines „aufgeklärten Katastrophismus“ im Umgang mit Atomkraftnutzung hat sich lediglich Österreich mit der Volksabstimmung 1979 ( bei überraschender Mehrheit „nein“) angenähert. In anderen Staaten haben interne Absprachen in den politischen, wirtschaftlichen und vor allem wissenschaftlichen Eliten zur Einführung der Kernkraft geführt, offene gesellschaftliche Debatten der Risikoabwägung fanden nicht statt. Seit die gestiegene Gefahr eines international vernetzten Terrors die besondere Verwundbarkeit von Gesellschaften mit hohen technischen Selbstgefährdungspotentialen wieder deutlich gemacht hat, gibt es eine Chance, diese offene Diskussion verspätet nachzuholen.
Voraussetzung dazu ist allerdings ein völlig anderer Umgang der Politik und der zahlreichen Nuklearexperten mit dem Problem, als die Analyse aufgezeigt hat. Dass Atomanlagen gezielt und mit welchen Folgen zerstörbar sind, muss dann ebenso offengelegt werden wie die möglicherweise unterschiedlichen Gefährdungsgrade von Atomanlagen. Nicht um Katastrophenstimmung zu verbreiten, sondern um öffentliche Diskussionen über Konsequenzen einzufordern. Das Ergebnis solcher Diskussionen kann nicht vorweggenommen und nicht vorausgesagt werden; auch wenn es wahrscheinlich ist, dass sie zur sofortigen Schließung besonders verwundbarer Anlagen und zu einem deutlich beschleunigten Abschied von der Atomkraftnutzung insgesamt aufgrund nicht beherrschbarer Großrisiken führt. Welche Entscheidung immer die Gesellschaft trifft: sie sollte im klaren Bewusstsein der möglichen Risiken getroffen werden. Mit einer Vernebelung und Verdrängung des Problems, die wir am Beispiel Deutschland in der Zeit von September 2001 bis heute analysiert haben, ist es nicht getan.